Den Aufbruch des jungen, modernen Lateinamerikas unterstützen
Die Menschen in den EU-Staaten wollen keinen Verfassungsvertrag, vor dem sie „in Deckung gehen müssen“. Sie wollen ein soziales, solidarisches und friedfertiges Europa. Die von der Bundesregierung ventilierten Vorschläge hinsichtlich einer künftigen Energiesicherungspolitik auf militärischem Wege sind unverantwortlich und wandeln auf den Spuren des „Terrorexperten im Weißen Haus“. Statt der Politik von Bevormundung und Freihandelsabkommen muss die Europäische Union zu einer neuen Partnerschaft mit dem Aufbruch des jungen, modernen Lateinamerikas finden. Diether Dehm in der Debatte zur Regierungserklärung der Bundeskanzlerin zur Europapolitik.


Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Botschaft des französischen und holländischen Referendums ist doch klar: Die Leute – auch die Mehrheit der Deutschen, die Sie per Volksabstimmung zu Wort kommen zu lassen höchst vorsorglich nie gewagt haben – wollen keine Verfassung, vor der sie in Deckung gehen müssen, und keinen ungehemmten Wettbewerbskannibalismus

(Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Oh!)

– natürlich! – über die Sozialbindung des Eigentums in unserem Grundgesetz hinweg. Sie wollen keinen Verfassungsvertrag, der dem neoliberalen Sozialdumping, dem Lohndumping und dem Mittelstandsruin die Tore sperrangelweit öffnet.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Leute wollen auch keine verfassungsmäßig legitimierten EU-Eingreiftruppen rund um den Erdball. Die Mehrheit der Europäer und auch wir wollen nicht keinen, sondern einen anderen Verfassungsvertrag. Wir wollen einen – ich zitiere aus unserem Entschließungsantrag –, der „die Grundintention eines sozialen, friedfertigen und demokratischen Europas im Geiste seiner Gründer und Gründerinnen und im Einklang mit dem Willen der Bevölkerungsmehrheit in den EU-Mitgliedstaaten widerspiegelt“. Die Verfassung ist nicht das Problem. Die Politik dahinter ist der Kern der hausgemachten so genannten Verfassungskrise.

(Beifall bei der LINKEN)

Frau Bundeskanzlerin, Sie haben deswegen wohl auch vor einem Schnellschuss gewarnt, um den selbst mit aufgebauten Erwartungsdruck hinsichtlich der deutschen EU-Präsidentschaft 2007 jetzt etwas zu dämpfen. Hören Sie also auf, große Worte wie „neue Ostpolitik“ zu tönen und damit Willy Brandt wieder einmal zu verhunzen! In der Tat: Da fehlen für die deutsch-polnischen und deutsch-tschechischen Grenzregionen nach wie vor die Abkommen, die die grenzüberschreitende Bekämpfung der Geflügelpest oder ähnlicher Katastrophen ermöglichen. Wir finden den dazu vorliegenden Antrag der FDP sehr viel konkreter als Ihre großen Worte.

(Beifall des Abg. Markus Löning (FDP))

– Ich danke Ihnen, Herr Löning.

(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)

– Unsere Zustimmung ist doch selbstverständlich, wenn wir etwas vernünftig finden. Da sehen Sie einmal, wie undogmatisch die Linken sind. Laut „Spiegel online“ vom 9. Mai 2006 fordern Sie, Frau Merkel, dass sich – ich zitiere wörtlich – „EU-Staaten nicht gegenseitig die Rohstoffe wegnehmen“. Frau Merkel, warum eigentlich nur „EU-Staaten“? Was versteht die Bundesregierung laut „Die Welt“ vom 18. April unter „Offensive in Richtung Kaukasus“? Was meint Herr Jung mit einer Einbeziehung der Energieversorgung in eine „vernetzte Sicherheitspolitik“? Was ist von einem Verteidigungsminister zu halten, dessen Verteidigungsbegriff so ungefähr alles umfasst, was angeblich Deutschland und der EU nützt? Deutschland auf den Spuren des Terrorexperten im Weißen Haus und seiner Energiesicherung im Irak und im Iran? Frau Merkel, dass Sie sich den größten Brecher des Völkerrechts der letzten zwei Jahrzehnte am 14. Juli nach Stralsund in Ihren Wahlkampf holen, ist schon ein bemerkenswerter Schulterschluss. Helfen Sie Mecklenburg-Vorpommern lieber wirtschaftlich, statt solche zweifelhaften Showeffekte zu initiieren!

(Beifall bei der LINKEN – Markus Löning (FDP)

: Da seid ihr ja an der Regierung! Heute und in den nächsten drei Tagen werden Tausende von überwiegend jungen Menschen nach Wien fahren. Sie werden dies nicht tun, um das Freihandelsabkommen zwischen der EU und dem Mercosur zu bejubeln, mit dem die großen Agrarunternehmen in Lateinamerika noch größer werden und die Kleinbauern um ihre Existenz gebracht werden können. In unserem Antrag zur EU-Lateinamerikapolitik haben wir ausführlich begründet, warum wir den Verzicht auf ein Freihandelsabkommen fordern. Wir sollten aus dem Verhandlungspaket jene Teile aus den Titeln „Dialog“ und „Kooperation“, die bereits ausverhandelt sind, herausnehmen und unabhängig von den anderen Teilen umgehend in Kraft setzen. Linke und andere Globalisierungskritiker werden in Wien sein, um den Aufbruch des jungen, des modernen Lateinamerikas – in Bolivien, in Venezuela und in anderen Ländern – gegen die undifferenzierten Vorverurteilungen und die Drohgebärden der EU-Kommission und der US-Regierung zu unterstützen und zu stärken.

(Beifall bei der LINKEN)

Gerade jetzt, wo die bolivianische Regierung den Gasreichtum ihres Landes nicht mehr zum Nulltarif ausplündern lässt, sondern nationalisiert! Glaubt denn hier irgendjemand, der ökonomische Unsinn bei uns in Deutschland mit der Privatisierung der Bahn, der Post, der Wasserversorgung und der Krankenhäuser sei das Wesen, an dem die Welt genesen soll?

(Beifall bei der LINKEN)

Dagegen stellen wir heute unseren Entschließungsantrag als klare zukunftsfähige Alternative zur Abstimmung. Nur ein soziales, solidarisches und friedfertiges Europa – nach dem Beispiel der Abwahl Berlusconis und dem Sieg der französischen Jugend über ihren Ministerpräsidenten – kann ein Partner der Völker sein. Der Gegengipfel in Wien morgen trägt den Titel „Alternativen verbinden“ „Eine andere Welt ist möglich!“. In Europa ist die andere Welt auf dem Weg. In Venezuela, Bolivien und bald in ganz Lateinamerika hat sie schon angefangen. Ich danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der LINKEN)