Drucken
Kategorie: Presse 2006

»Roter Bock«: Erik Neutsch und andere

http://www.nd-online.de/artikel.asp?AID=100670&IDC=4
Von Sybille Walter - 20.11.06
 
Kein Wunder, dass so viele Gäste kamen: Moderator und Organisator Dr. Diether Dehm, Mitglied des Bundestages, hatte zu seinem letzten »Roten Bock« in diesem Jahr den Schriftsteller Erik Neutsch, den Wissenschaftler und Brecht-Kenner Prof. Dr. Ernst Schumacher und den Kabarettisten Dr. Seltsam in das Berliner »Café Sibylle« eingeladen. Und befragte sie, wie bei ihm gute Tradition, gleichermaßen zur eigenen Tätigkeit wie zu politischen Ansichten und Erfahrungen. Ihn habe seine Herkunft aus der Arbeiterklasse geprägt, meinte Erik Neutsch. Die Sehnsucht seiner Eltern sei immer ein Sozialismus gewesen, wie er in der DDR zumindest versucht worden sei. Diese Sehnsucht sei nach wie vor auch seine Position, bestimme sein Schreiben ebenso wie der Wunsch, dass ihn jene Menschen verstehen, von denen er abstamme. Die Frage, ob er das Jahr 1990 als jenen Schock erlebt habe, der viele ehemalige DDR-Künstler ebenso lähmte wie die bundesdeutsche Linke, verneinte Neutsch. Ihm sei seit Anfang der achtziger Jahre klar gewesen, dass die Verhältnisse stagnierten und sich etwas ändern müsse. Ihn habe der Zusammenbruch der DDR wenig überrascht.
Er habe aufmerksam registriert, was ab 1990 geschah. Es war sehr schnell zu sehen, dass dies auf die Restaurierung des Kapitalismus hinauslief. Er hat weiter gearbeitet und einen Roman über den Maler Matthias Grünewald gechrieben. Dessen Geschichte sei ein Beispiel dafür, was mit Menschen passiert, die sich für Fortschritt einsetzen und die Rückkehr alter Verhältnisse miterleben müssen.
Derzeit arbeitet Erik Neutsch am fünften Buch des Zyklus »Friede im Osten« und verfolgt die Geschichte seiner Helden weiter. Was es mit der unselbständigen Erik-Neutsch-Stiftung innerhalb der Rosa-Luxenburg-Stiftung auf sich habe, fragte Dehm. Nun, er sei nicht mehr der Jüngste. Im Laufe seines Lebens haben sich Manuskripte und anderes Material angesammelt, über dessen Bewahrung er nachdenken musste. Das Archiv der Akademie der Künste, die ihn im Zuge der Vereinigung ausgeschlossen hatte, kam für ihn nicht in Betracht, die Rosa-Luxemburg-Stiftung war naheliegend.
Prof. Schumacher ist Wissenschaftler, und seine Lebenssicht ist durchaus ähnlich. Sie wurde beeinflusst durch seine Zusammenarbeit mit dem Theatermann und Dichter, dem marxistischen Intellektuellen Bert Brecht. Brechts wesentliche Intention war, alles zu versuchen, einen neuen Weltkrieg zu vermeiden. Von diesem Grundsatz habe er sich auch leiten lassen im Spannungsfeld eigener künstlerischer Intentionen und der nicht immer angenehmen Einmischungen der SED in die praktische Theaterarbeit. Das Besondere am Marxismus des B.B. sei sein Grundinteresse an Widerspruch und Dialektik, so Schumacher. Ihn selbst habe dies in seiner wissenschaftlichen Tätigkeit ebenso geprägt wie in seiner Weltanschauung. Daher zweifle er beispielsweise in der Gegenwart nicht am Ziel sozialistischer Veränderung der Welt, sondern frage: »Warum sind wir gescheitert?«
Eine andere, die bundesdeutsche, Sozialisation, und den Berufstand der Satiriker vertrat in der Runde Dr. Seltsam, im bürgerlichen Leben Wolfgang Kroeske: So forderte er den Eintritt aller linken Kräfte in eine neue KPD, um es guten Kleinbürgern zu ermöglichen, »wie Reiche zu leben und wie Arme zu kämpfen« (Peter Hacks).
Den nächsten »Roten Bock« gibt es im März, und vielleicht kann das »Café Sibylle« bis dahin noch Stühle kaufen, um für möglichst viele Sitzplätze auf dem real vorhandenen Platz zu sorgen!