Drucken
Kategorie: Reden

Tagesordnungspunkt 4:
Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung: zum Europäischen Rat am 15./16. Dezember 2005 in Brüssel
in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 2:
Antrag der Abgeordneten Michael Link, Markus Löning, Dr. Werner Hoyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Den EU-Haushalt auf höchstens 1 Prozent des Bruttonationaleinkommens begrenzen und die finanzielle Vorausschau 2007 bis 2013 schnellstmöglich beschließen (Drucksache 16/224)


Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich erteile dem Kollegen Diether Dehm, Die Linke, das Wort.

Dr. Diether Dehm (DIE LINKE):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!

Nach dem Scheitern des Verfassungsvertrages bei den Volksentscheiden in Frankreich und den Niederlanden scheiterte auch der Versuch, sich im Europäischen Rat am 16./17. Mai vergangenen Jahres auf eine Finanzielle Vorausschau für die Jahre 2007 bis 2013 zu einigen. Allgemein war die Rede von der Krise der Europäischen Union; nur am Bewusstsein bezüglich des Charakters und der Tiefe der Krise fehlte es bei Ihnen, den Regierenden, und es gab keinen Gedanken daran, dass der Verfassungsvertrag seines Inhalts wegen abgelehnt worden war,

(Beifall bei der LINKEN)

und vor der finanziellen Weichenstellung keinen Versuch, den Weg der Union seit Maastricht kritisch zu hinterfragen. Dabei weiß doch offenbar niemand so recht Antworten auf vier zentrale Fragen:
Auf welcher Grundlage sind eine nachholende Entwicklung der beigetretenen Länder und ein umfassender sozialer Zusammenhalt in der Union möglich? Kann die Europäische Union den gewachsenen Aufgaben mit derselben Finanzausstattung gerecht werden oder gar mit einer geringeren? Können in Phasen konjunktureller Stagnation zusätzliche finanzielle Leistungen von den Mitgliedstaaten erwartet und zugleich die Einhaltung der Maastricht-Kriterien verlangt werden? Ist es den Ländern, die an sich finanziell leistungsfähiger sind als andere, überhaupt möglich, zusätzliche Beiträge an die Europäische Union aufzubringen, wenn nicht zugleich Steuerdumping europaweit unterbunden wird?

(Beifall bei der LINKEN)

Diese Fragen, meine Damen und Herren, wurden nicht einmal gestellt. Stattdessen wurde ein weiteres Mal nach dem ebenso beliebten wie irrealen Motto „Mehr Europa für weniger Geld“ verfahren. Ich sage für die Linke, nicht nur in Deutschland: Das gibt Widerstand!

(Beifall bei der LINKEN)

Bei der Deckelung tat sich besonders die rot-grüne Bundesregierung hervor, unterstützt von den beiden anderen neoliberalen Bundestagsfraktionen. Zusammen mit den Regierungen der anderen Nettozahler trat sie dafür ein, die finanzielle Entwicklung auf 1 Prozent der gemeinschaftlichen Wirtschaftsleistung zu schrumpfen. Auch daran, an Ihnen, scheiterten die Versuche von Jean-Claude Juncker, bei einem Prozentsatz von 1,06 zu einer Einigung zu gelangen. Nicht nur am Britenrabatt. Und nicht nur an der Verteidigung des Agrarkompromisses
von 2003 durch die französische Regierung. Es fehlte auch an der Bereitschaft der Bundesregierung, einen Beitrag zu zahlen, der den Vorteilen entspricht, die wir als Exportweltmeister aus der EU und auch aus der Erweiterung ziehen.

(Beifall bei der LINKEN)

Inzwischen war die Präsidentschaft der Europäischen Union auf Großbritannien übergegangen. Tony Blair hat zu ihrem Beginn in leuchtenden Farben fulminante Bilder gemalt. Danach geschah nicht viel. Erst jetzt, nach fünf Monaten, kurz vor Ende seiner Präsidentschaft, wurde ein neuer Vorschlag für die finanzielle Vorausschau vorgelegt. Der Bundestag ist von diesen Vorschlägen
durch die Bundesregierung nur sehr unvollkommen informiert worden. Das ist nicht nur bedauerlich; das ist gänzlich inakzeptabel und stellt eine Missachtung der parlamentarischen Informations- und Kontrollrechte dar.

(Beifall bei der LINKEN)

Nach zugänglichen Presseberichten, etwa in der „FAZ“ von gestern, wird deutlich, dass der jetzige Vorschlag sich auf 1,03 Prozent beläuft, 24 Milliarden Euro weniger als beim Vorschlag Junckers. Das erfordert erhebliche Kürzungen, die von uns Linken so nicht hingenommen werden können.

(Beifall bei der LINKEN)

Nach meinen Informationen sollen unter anderem die Ausgaben für den Fonds für ländliche Entwicklung um 10 Prozent gekürzt werden, ganz im Gegensatz zu den Sonntagsreden gegenüber den Bauern, in denen sich besonders die Unionsparteien gefallen.

(Beifall bei der LINKEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Na, na!)

Das ähnelt sehr stark dem Umgang mit dem Mittelstand, der stets sonntags gepriesen wird, während werktags die Großbanken und Konzerne gegenüber Klein- und Mittelunternehmen steuerlich privilegiert und von Regulierungen weithin freigestellt werden.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Dann wollen Sie noch, dass die Ermäßigung der Mehrwertsteuer für unsere Kleinunternehmer in der EU nicht verlängert wird. Das, meine Damen und Herren, ist nun wirklich mittelstandsfeindlich.

(Beifall bei der LINKEN)

Zu hören ist auch, dass die Strukturfondsmittel für die neuen Mitgliedstaaten um 10 Prozent oder 16 Milliarden Euro niedriger ausfallen sollen als im Luxemburger Vorschlag. Welche Folgen hätte das für die wirtschaftliche Entwicklung dieser Länder, insbesondere für deren Infrastruktur und industriellen Sektor – auch unter ökologischen Gesichtspunkten! In der gestrigen Sitzung des Europa-Ausschusses haben Regierungsvertreter die geplanten Einschnitte zu relativieren versucht: Man müsse ja den Beitrittsländern nur helfen, die vorgesehenen Mittel schneller abzurufen und über einen längeren Zeitraum einsetzen zu können; das sei genug der
Hilfe. Es fällt schwer, so etwas nicht für Zynismus zu halten. Wer darf sich da noch wundern, wenn Beitrittsländer nach anderen Instrumenten suchen? Etwa Steuerdumping oder das Absenken sozialer und ökologischer Standards. Dann kommt noch die Dienstleistungsrichtlinie mit dem viele soziale Standards platt machenden und aggressiven Herkunftslandsprinzip. Eine Konkurrenz um Unternehmensansiedlungen mit Mitteln des Steuerdumpings führt nur zur Umverteilung zwischen den verschiedenen Mitgliedstaaten, nicht zur Stärkung des Wirtschaftspotenzials insgesamt. Im Ergebnis führt es zu sinkenden Steuereinnahmen besonders in den alten Mitgliedstaaten. Die mangelnde Bereitschaft, sich an einer aktiven europäischen Strukturpolitik für Arbeitsplätze und Mittelstand durch zusätzliche finanzielle Mittel zu beteiligen, führt dann nicht zu einer besseren, sondern zu einer schlechteren Haushaltssituation. Die Möglichkeiten, den immer weltfremderen Maastricht-Kriterien zu genügen, würden noch geringer. Was bliebe? Natürlich: Die Nettozahlungen an die EU könnten ja weiter reduziert werden. Und: Dann ginge der ganze neoliberale Zirkel wieder von vorne los. Es zeigt sich ganz deutlich: Genau wie auf der Ebene der Einzelstaaten spielt die dogmatische Sparpolitik eine verhängnisvolle Rolle. Statt über die öffentlichen Hände, also den Fiskus, unproduktive Geldvermögen für produktive Investitionen zu mobilisieren, werden Leistungen eingeschränkt oder jedenfalls begrenzt. Das hieße ja, heilige Kühe wie die Deutsche Bank, Daimler und Allianz einmal wirklich steuerlich anzupacken.

(Beifall bei der LINKEN)

Aber so führt die Privilegierung hoher Einkommen und Vermögen zur Einschränkung öffentlicher Leistungsfähigkeit, auch im europäischen Bereich. Konsequenz ist, dass vorhandene Entwicklungspotenziale stillgelegt statt genutzt werden, dass sich eine noch stärkere soziale Polarisierung im Land und eine Konfliktverschärfung zwischen den verschiedenen Mitgliedstaaten ergeben. Es ist die Ausdehnung des Wettbewerbskannibalismus auf die gesamte Europapolitik! Sozialstaat und auch Demokratie, die ja, meine Damen und Herren von den Liberalen, auf Gleichheitsgrundsätzen beruht, kommen dabei unter die Räder.
Die Kanzlerin zitierte verfälschend. „Lassen Sie uns mehr Freiheit wagen!“. Das war nicht Willy Brandt, das war Strauß mit seinem „Freiheit statt Sozialismus!“. Das ist die Freiheit des Herrn Bolkestein;

(Beifall bei der LINKEN – Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Nichts gegen Frits!)

das ist die globale Freiheit der Großbanken von demokratischen Grundregeln. Das ist der Freiheitsbegriff des Urvaters der Neoliberalen, von Hayek, der es in seinen „Grundsätzen einer liberalen Gesellschaft“ so formulierte: Politische Freiheit im Sinne von Demokratie, „innere“
Freiheit, Freiheit im Sinne des Fehlens von Hindernissen für die Verwirklichung unserer Wünsche
oder gar „Freiheit von“ Furcht und Mangel haben wenig mit individueller Freiheit zu tun und stehen im Konflikt mit ihr. Dieser neoliberale Freiheitsbegriff steht im Gegensatz zu unserem Grundgesetz. Deswegen wurde die EU-Verfassung abgelehnt. Deswegen werden wir Anfang des
nächsten Jahres gegen Bolkestein in Straßburg demonstrieren. Deswegen bleiben wir Linken da schon lieber beim Original, bei Willy Brandt: Wir wollen mehr Demokratie wagen!

(Beifall bei der LINKEN)