Disput, Dezember 2011

Nachruf für Franz Josef Degenhardt
Manche Künstler erhalten ihre Bedeutung dadurch, dass sie buntes Konfetti über die Häupter ihrer Zeitgenossen streuen. Andere wiederum rollen feine Kassiber, die noch lange nach ihnen in vielen Flaschen anstranden. Paul Celans »Schwarze Milch der Frühe« ist eine solche Flaschenpost, gerichtet »An die Nachgeborenen« (wie das gleichlautende Gedicht von Bertolt Brecht auch eine ist).


Franz Josef Degenhardts große Balladen in den Sechzigern waren zeitgenössisch. Der Aufstand gegen die hitlerische Mitläufer/innengeneration war überfällig. Später besang er die Menschenliebe der Kapitalfeinde in großen Charakteren: »Mutter Mathilde«, »Natascha Speckenbach« und vor allem den »Kommunisten Rudi Schulte«, der einst von maoistischen Trittins und GIM-Funktionären (heute in der Berliner Landesspitze der Linkspartei) als »Revisionist« beschimpft wurde. (»Das erzählte er am Abend seinen Tauben/und da haben seine Tauben sehr gelacht ... an der Kremlmauer lehnt Genosse Lenin/und sagt: Schultenrudi – haste gut gemacht!«)

Die Geschichte dieser marxistischen Aufbegehrenden in Westdeutschland ist noch nicht geschrieben. Aber die Lieder dazu schwimmen unter den Netzen der Zensur, während sich die Wirtschaftskrise verschärft. Auch wenn er sich derart zurückzog vor seinem Sterben, sind es seine Lieder, die uns heute in lebendigen Stoffwechsel hineinziehen. Im Erkennen gehören, je nach philosophischem Bildungsgrad (und unserer war damals vom Antikommunismus kleingetreten) Begriff und Metapher zusammen, wie die linke und die rechte Hirnhemisphäre. Degenhardt – von seinen Freunden und GenossInnen Karratsch genannt – brachte beides zum Zusammenschwingen.

Wer sein »Lied von Arbeitslosigkeit« von 1976 hört (»Umdenken, Mister, … und zwar radikal«), hört einen Propheten. Das törichte Wort »Neoliberalismus«, das jene staatlich lizensierte Enthemmung nur ungenügend beschreibt, wurde in diesem Traktat zum Menetekel. Derlei Sprechgesang wurde ihm zur zweiten großen Methode. Neben der Ballade, die er auch aus Villon, Brecht, Klabund und Brassens entfaltete. Neben dem teilweise verschütteten und noch nicht wiederentdeckten brillanten Liederlyriker Dieter Süverkrüp, mit dem er damals immer in einem Atemzug genannt wurde, schuf Degenhardt eine neue Atmosphäre, eine der antifaschistischen Souveränität, die wir brauchten, um mit dem Posthitlerismus zumindest abzurechnen.

So, wie Bertolt Brecht in seinen Buckower Elegien – sogar in der DDR noch – den Faschismus als untergründig hegemonial fürchtete und fürchten lehrte, entwickelte Degenhardt in seinen Liedern vom »Kleinstadtsonntag« das heimliche Grauen des im DeutscheBankStaat allgegenwärtigen Pogroms: »Sie haben ihn noch eingeholt/der Schäfer führt den Haufen an/… er hängt an einem Hinkefuß/am andern hängt ein Zettel dran: … hier hängt der Mann, der Papst Johann und Kennedy ermordet hat/ … Ja, so sind hier die Leute.«).

In »Väterchen Franz« und dem Traktat »Lieber Doktor Degenhardt, Drecksack mit dem Ulbrichtbart …« leuchtet er die unterschwellige Siegesgewissheit der posthitlerischen Staatsterroristen Abs, Globke, Filbinger etc. aus. Es war die Linke mit seinen Liedern, die Westdeutschland durchschüttelte, bis der Anachronismus aus den Lodenmänteln rieselte und der zivilisatorische Höhepunkt zu bewältigen war: der Kniefall des Emigranten vor dem Mahnmal des Warschauer Ghettos.

Aber bald, bereits in seinen Liedern auf Burg Waldeck, gelang dem dialektischen Realisten Degenhardt noch ein anderer Typ: Der alte Nazismus verkumpelte sich nun mit visionärem Marktextremismus. Degenhardt zeichnete den modernen Nazinachfolger. Dessen Rassismus richtete sich nicht mehr gegen reiche Amis und Juden. Im Neorassismus fokussiert sich das Ausmerzen nur noch auf sozial Beschädigte.

Degenhardt hatte nun, zuerst mit der Ballade von »Horsti Schmandorf«, eine Figur gefunden, die er dann auf jeder LP immer neu improvisierte. Der Neorassismus, der nicht mehr antisemitisch sein wollte, nicht antiamerikanisch, sondern – wie Jahrzehnte später der Osloer Attentäter Breivik in seinem fünfzehntausendseitigen »Manifest«-Kauderwelsch sich auf Hendrik Broder und den MacDonalds-Lobbyisten, den US-Professor Rorty, berufend – einem neuen Herrenmenschen huldigte, den ausschließlich die Beziehung zum strategischen Kapitalbesitz zum weißen Ritter machte. Demgegenüber waren die schrägen Figuren (die meisterlich von Karratschs Schwägerin Gertrude Degenhardt in Gemälde übertragen wurden), als »minderwertiges Leben«, Schmuddelkinder.

Wenige in der deutschen Liedkultur haben Degenhardts Handschrift fortgeschrieben. Einer ist Manfred Maurenbrecher. Der Liedermacher-Trend ging dann in eine harmlosere Richtung. So hat heute die Linke noch kein realistisches Bild und viel zu wenig Lieder vom terroristischsten Feind, vom Finanzkapital, von dem Brecht sagt, dass er dabei sei, »der Menschheit jetzt die Gurgel durchzuschneiden«. Es gibt keine wirkmächtige emanzipatorische Strategie ohne ein realistisches Bild vom Hauptfeind. Ohne den von Degenhardt renovierten Antifaschismus werden jede Gewerkschaft und auch die Occupy-Bewegung zu kurz greifen.

Die Arbeiterklasse bleibt der Hegemon auch einer künftigen Geschichte, und Degenhardt hat seinen enormen Anteil daran, dass proletarische Charaktere aus der Gesichtslosigkeit der marxistischen Theorie hervortreten konnten. Und dass die Feinde des strategischen Kapitals nicht mit Verbotsschildern durch die Geschichte stolpern, sondern Glücksentwürfe singen: »Kommt an den Tisch unter Pflaumenbäumen« wird uns noch lange Karratschs Not-wendende Handreichung bleiben. Auf meiner letzten CD schrieb Degenhardt, mein Gesang sei am »anmutendsten von allen lebenden Eisler/Brecht-Interpreten … komödiantenhaft und poetisch, was es in der asketischen, … drögen deutschen Arbeiterbewegung viel zu wenig gegeben hat.« Wenn auch nur die Hälfte seines Lobs stimmt: Unsereiner hätte ohne Franz Josef Degenhardt kaum etwas hingekriegt.

Franz Josef Degenhardt, geboren am 3. Dezember 1931 im westfälischen Schwelm, starb am 14. November 2011. Er war promovierter Jurist und Rechtsanwalt, Liedermacher und Schriftsteller.