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DIE LINKE.Niedersachsen - Landesparteitag 12. April 2008
  • Antrag Nr. 1

Leitantrag zur Selbstverständigung  über gegenwärtige Position und künftige Aufgaben

Antragstellerinnen und Antragsteller:

 
Punkte Erstens bis Siebtens:
  • Dr. Diether Dehm
  • Kreszentia Flauger
  • Marianne König
  • Dr. Manfred Sohn
 
Punkte Erstens bis Sechstens:
  • Maren Kaminski
  • Jan Jörn Leidecker
  • Christa Reichwaldt


Gliederung

 
 
 

 

Erstens: Woher wir kommen, wohin wir wollen

 
Die Arbeiterbewegung war jahrzehntelang gespalten in viele sich gegenseitig bekämpfende Gruppierungen, von denen Sozialdemokraten und Kommunisten die größten waren. Faschismus und andere Formen bürgerlicher Herrschaft haben davon profitiert. Wer aber sind jetzt wir?
 
Auch DIE LINKE in Niedersachsen möchte die Programmdebatte nutzen, um eigene Beiträge zur künftigen sozialistischen Praxis zu leisten. 
 
Gregor Gysi hat Recht, wenn er sagt, viele von uns würden sich ihre Identitätsbezüge aus vergangenen Parteikapiteln ohne aktualisierte Aussagekraft holen. Sie würden sich zwar bekennen und benennen als Sozialdemokraten, aber nicht wie Schröder, Kommunisten, aber nicht wie Honecker, Sozialisten (ohne oder mit „demokratische“), aber nicht wie Craxi. Das „aber“ sei jedoch eine Verrenkung und verweise eher auf ein Defizit und damit die Notwendigkeit, aus historischer Abstraktion in eine konkrete neue Aktualität aufzusteigen, soweit diese neuen Kampfbedingungen der Arbeiterbewegung entsprechen.
 
Diesem Gedanken folgend wollen wir uns den jetzt vor uns liegenden Aufgaben stellen, ohne die Geschichte, aus der wir kommen, zu leugnen, aus ihr lernend, aber auch ohne die Illusion, in ihr schon die fertigen Antworten zu finden, die die Zukunft von uns fordert.
 
Die Erfahrungswelt der Klassiker der Linken entstammt überwiegend der Illegalität, der Bürger- und Weltkriege, bei denen das Großkapital Millionen werktätiger Menschen für seine Aggressionspläne verheizt, nicht nur die Linke verboten, sondern auch andere Formen der bürgerlichen Demokratie unterdrückt hatte. Entsprechend entfaltete sich ein Teil der Arbeiterbewegung, vor allem der nicht-sozialdemokratische, in der  negativen  Fixierung an staatspolitischer Willkür und Kriegsterror. Kulturen, Partei und Staatskonzepte blieben direkt oder antithetisch gefesselt an diese kriegerische Alltagslogik und Politik. „ … auch der Hass auf die Niedrigkeit verzerrt die Züge“ schrieb Brecht an uns Nachgeborene. Die unter den Bedingungen des ersten und zweiten Weltkriegs gespaltene Linke schien sich hernach hauptsächlich in prinzipientreue revolutionäre Kommunisten mit einer hohen Akzeptanz individuellen Terrors  und  antisozialistische SPD-Pragmatiker mit einer hohen Akzeptanz kapitalistischer Willkür zu teilen. Unsere Partei ist der Versuch, diese jahrzehntelangen Spaltungen durch eine neue politische Praxis zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu überwinden.

 

Zweitens: Spaltung meiden – weil Millionen auf uns bauen

 
Seit jeher ist die Linke für ihre Zankbereitschaft und Spaltungslaunen bekannt. Innerhalb der Partei sehen wir die Streitursachen meistens beim anderen. Die Kraft, den anderen im Streit mit dessen verletzten Augen zu sehn, ist nur mühsam zu lernen. Kleine Abweichungen wurden in der Linken schärfer geahndet, als großer Verrat. 
 
Manchmal aber auch lassen  wir uns den Streit von  außen herein reden. Die Konzernmedien werden mit jedem Prozent mehr Wahlerfolg mehr Streit und Skandalisierung in unsere  Reihen zu tragen versuchen. Meistens werden dies Aufgeregtheiten bleiben, die ausschließlich die politische Kaste und Pressezirkel, aber selten Hartz-IV-Empfänger und Niedrigverdienerinnen umtreiben. In solchen Situationen empfiehlt es sich, nie sofort die von außen geforderten Köpfe zu liefern, sondern eben auch nach den Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit zu verfahren – was die Zeit zur Beweismittelprüfung, die grundgesetzliche Unschuldsvermutung sowie „in dubio pro reo“ [* a.d.R. Im Zweifel für den Angeklagten *] einschließt. Relativ schnell werden wir feststellen, dass wenige Medien uns diese Zeit gönnen, sondern auf der Stelle die Köpfe geliefert bekommen wollen, die sie fordern. Dies hat einen einfachen Grund: Sie wissen, dass ihre Kraft für eine Skandalisierung von Linken nur  so kurz hält, wie die Lust ihrer Medienkonsumenten; und danach geht ihnen sofort die Luft aus. Und in dieser Zeit wollen sie ihre Forderungen, die sie in die Linke hineingeschrieben haben, exekutiert wissen. Geduld miteinander zu haben, wo unbewiesene Vorwürfe gegen Linke kolportiert werden, kann also schnell zu einem riesigen Kraftaufwand der Demokratie werden, zu dem wir uns als rechtsstaatliche Kraft bekennen. Nur so meiden wir Spaltung. Die Menschen, die uns wählen und weiter wählen wollen, haben kein Interesse an einer zerstrittenen, von Medien auseinanderzutreibenden und sich jeder Umfrage hingebenden Linken. Sie brauchen Halt und eine Organisation, die ihre verletzte Selbstsicherheit und Würde nicht weiterer Verletzung aussetzt. Intelligenter, inhaltlicher Disput um die beste Strategie für soziale Gerechtigkeit und Frieden ist gut. Individualisierende Zänkerei und Streitereien dürfen wir uns um unserer Wählerinnen und Wähler willen nicht leisten.
 
Wir brechen mit der schlechten Tradition  linker Spaltung. Im Kleinen: zwischen unterschiedlichen Charakteren und im Großen: zwischen gemäßigteren und radikalen Linken.
 
Der kurze historische Moment, in dem die Sozialdemokratie Bebels ein Kommunistisches Manifest unter dem Arm trug, war untergepflügt und flackerte bestenfalls in den Baracken der Konzentrationslager auf, wo die verfeindeten Linken zusammenkamen und dort 1945 schworen, sich nie wieder derart spalten zu lassen. 
 
Einige wenige linke Dissidenten mühten sich stets um die Überwindung der Spaltung. Aber sie blieben von jeglicher Organisationswirkung ausgegrenzte Grenzgänger, von KPD- und SPD-Machtpolitikern belächelte Narren. Bis jetzt, da es die Linke gibt, in der frühere und jetzige Sozialdemokraten, frühere und jetzige Kommunisten und andere kapitalismuskritische Freidenkerinnen  ihren Platz nebeneinander erstmals seit 1912 wieder gefunden zu haben scheinen. 

 

Drittens: Wir sind die Verfassungspartei

 
Antikommunismus in Historie und Alltagsbewusstsein profitiert davon, dass Grausamkeiten, die auf dem Weg aus der Kapitalherrschaft verübt wurden, isoliert gesehen werden von jenen Grausamkeiten,  die den Menschen auf diesem Weg zuvor angetan worden waren. Gleichwohl: Wir finden zueinander unter Bedingungen einer entfalteten bürgerlichen Demokratie, die sogar in geringem Ausmaß von einem Konsens mitgeprägt ist, der  sich zunehmend kritisch  gegen die Diktatur des hemmungslosen Finanzkapitalismus wendet. In den historisch gewachsenen Gesellschaftskonsens europäischer Staaten scheinen sogar Züge von Hegel, Marx und Brecht eingeschrieben zu sein. Der stetige Misserfolg von Neonazis nunmehr seit 40 Jahren, machtpolitisch Fuß zu fassen, belegt dies ebenfalls. Die Linke ist legal und es gibt derzeit keine Anzeichen dafür, dass die Bourgeoisie diesen Zustand beenden möchte oder könnte. Die Proteste gegen Hartz IV, unsere Demonstrationen gegen die vergangenen drei Kriege haben wir nicht allein vorgetragen. Bis in die herrschenden Parteien, Medien und Institutionen hinein gab es punktuelle Übereinstimmung. Unsere Positionen liegen in einer Perspektive von Brüchen mit der noch mehrheitsbeherrschenden Kapitallogik. Aber wir wollen diese in Staat und Gesellschaft mit neuen Mehrheiten demokratisch und in neuer Belebung unserer Verfassung organisieren. 
 
Aber auch durch die Pläne unserer Feinde von rechts und von oben sind wir auf Kenntnisse des Verfassungsrechts  und der rechtsstaatlichen Absicherungen angewiesen. Die kürzlich herausgekommenen Putschpläne gegen Berlinguer, der Mord an Allende und der kalte Putschversuch gegen Willy Brandt – alles Anfang der Siebziger – beschreiben auch die Anforderungen an eine neue  rechtsstaatliche Linke.
 
Unter diesen Bedingungen werden viele Divergenzen und Bezüge der Vergangenheit obsolet. Einstige dogmatische Bekenntnisse oder ebenso undifferenzierte Pauschalverurteilungen von Maßnahmen führender Kommunisten oder Gegenmaßnahmen von SPD-Führern, die sich auf die Absicherung der jeweiligen Einflusshemisphäre bezogen, haben mit dem heutigen politischen Leben wenig zu tun. Weder ist eine Bürgerkriegsvariante absehbar, noch die daraus abgeleiteten linken Strukturen, Fixierungen und Antifixierungen. Wir verteidigen gegenwärtig den Sozialstaat. Wenn es aber in Zukunft zu einem Bruch mit Grundelementen des Kapitalismus kommen sollte, dann nur auf der Basis breiter Mehrheiten aufgeweckter und aktiver linker Demokraten, nicht nur als Wähler. „Individueller Terror anstelle von Massenbewegungen“ (wie ihn einst Lenin verurteilte) ist der Gegenentwurf zu unseren Optionen. Der Staat, der den Reichtum wieder von oben nach unten verteilt, der die Stromnetze wieder in öffentliches Eigentum holt, der „die Stärke des Rechts gegen das Recht des Stärkeren“ (Brandt) wendet, bezieht seine innere Kraft unter den Bedingungen einer entfalteten bürgerlichen Demokratie nicht aus Armee und Geheimdienst, sondern aus seiner Vertrauenswürdigkeit wegen einer unabhängigen Rechtssprechung und demokratischer Gewaltenteilung. Mochten in der jungen Sowjetunion oder in den ersten beiden Jahrzehnten der DDR die Traumata des Bürgerkriegs, des Massensterbens auf den Schlachtfeldern, der Illegalität und die Charakterprägungen aus Exil und KZs nicht eben „den Boden für Freundlichkeit“ bereitet haben: der Staat, mit dem wir die Tür zu nichtkapitalistischen Verhältnissen aufstoßen, wird, wenn es nach uns geht, ein sozialer, demokratischer Rechtsstaat des Grundgesetzes, stark, weil freundlich und freundlich, weil stark, sein. Auf dieser Grundlage laden wir alle Linken ein, mit uns Demokratie neu zu lernen und die alten Fixierungen hinter uns zu lassen. 
 
Angesichts der aktuellen Entwicklung des transnational aktiven Finanzkapitals und der aggressiven Entwicklung der US-Supermacht und ihrer Mitbewerberin EU um den Weltpokal des Imperialismus ist ohnehin ein neuer Anlauf linker Einigkeit und einer viel breiteren sozialen Bündnispolitik vom ALG-II-Bezieher bis zur Handwerkerin und zum Gewerbetreibenden nötig. Seit dem Schwur von Buchenwald ist zudem eine Überwindung der Spaltung der Arbeiterbewegung noch nie derart zum Greifen nahe gewesen. Mit der Phase der „nachhaltigen  Legalisierung“ in Zentraleuropa ist etwas derart grundsätzlich neues, eine Überwindung alter Spaltungen auch, möglich  geworden. Demokratische Revolutionsperspektive und Konzentration auf pragmatische Reformschritte mit linker Wirkung treten neu zueinander.
 
Einige Analytiker der Arbeiterbewegung hatten eine Schwäche: den Ökonomismus; das heißt, alle geistigen Prozesse und Strategien wurden geradlinig aus dem Stand der Produktivkräfte abgeleitet, ohne Kultur, gesellschaftlichem Denken und Subjektivität eine besondere Rolle einzuräumen. Unsere Gegner waren da oft schlauer. Ihre Strategien leiteten sie auch aus unseren subjektiven Schwächen ab. Die Harzburger Front um Krupp, Stinnes und Hugenberg schrieb so ihren Brief an Hindenburg, Hitler Ende 1932 sofort zum Reichskanzler zu ernennen, nicht nur, weil objektiv die petrolchemische Industrie gerade in eine schwere Krise geraten war, sondern ebenfalls, weil die Linke auch subjektiv gespalten war, sich aber anschickte, an der Überwindung ihrer Spaltung zu arbeiten. Die Offensive des Neoliberalismus seit den Achtzigern war nicht bloß objektiv „der Abschied von fordistischen Produktionsweisen“, sondern Privatisierung und antisozialstaatliche Deregulierung fanden subjektive Akzeptanz und beschleunigten sich mit dem Zusammenbruch des „dritten Tarifpartners DDR“, mit abnehmendem Widerstandsbewusstsein linker Parteien und subjektiven Konfusionen im gewerkschaftlichen Lager im Wendejahr 1989. 
 
Wir – umgekehrt – wären schlecht beraten, unsere Strategie heute nicht auch aus den gegenwärtigen Akzeptanzdefiziten der Kapitalparteien und ihrer Angewiesenheit auf bürgerliche Rechtskultur abzuleiten und medienstrategisch zu öffnen.
 
Der im Grundgesetz festgeschriebene Konsens des demokratischen Rechts- und Sozialstaats mit Angriffskriegsverbot findet in der Linken seine uneingeschränkten Fürstreiterinnen und Fürstreiter. Hatte ein Teil der Linken –  auch geprägt durch eineinhalb Jahrhunderte fürchterlichen Terrorregimes  der Kapitalseite vom Sozialistenverbot über Buchenwald  und später auch die Adenauersche Kommunistenverfolgung – wenig Neigung zum demokratischen Rechtsstaat, haben auch sie seit der Wende ihr Kapitel mühsam und in teilweise selbstzerfleischender Aufarbeitung des Realsozialismus gelernt: Es geht hierzulande nur demokratisch!
 
Wir also sind es heute, die – für das Prinzip der Gewaltenteilung streitend – an der Finanzierung unabhängiger Rechtssprechung festhalten, die das öffentlich-rechtliche Rundfunk- und Sparkassensystem verteidigen. Wir wollen auch keine EU, wo der Ministerrat als Exekutive das Parlament als Legislative gängelt. Diese Kritik teilen wir mit dem früheren Bundespräsidenten Roman Herzog.
 
Wir sind es, die gegen alle grundgesetz- und völkerrechtswidrigen Kriege auf die Straße gegangen sind und fester, verlässlicher Bestandteil der Friedensbewegung sind und bleiben. Wir wissen uns zwar einer Mehrheit im Bundestag und anderen herrschenden Institutionen gegenüber, dafür aber einig mit über 70 % der Bevölkerung.
 
Und wir sind die einzige Parlamentspartei, die praktisch und theoretisch ohne jede Abweichung das Prinzip der Sozialstaatlichkeit verteidigen und ausbauen will, welches die Mütter und Väter unseres Grundgesetzes sogar mit einer mehrheitsimmunen Ewigkeitsklausel umgürtet haben. Die FDP als verfassungsmanipulierende Kraft möchte den Artikel 15 GG streichen, der die Möglichkeit einer Sozialisierung von Produktionsmitteln ausdrücklich vorsieht. Wir wollen das Gegenteil: demokratisch um Mehrheiten ringen für öffentliches Eigentum. Damit Stromnetze, Deutsche Bank und  Allianz nicht mehr länger von der Einflusssphäre der Stimmzettel ausgespart bleiben!
 
In diesem Sinne bereiten wir uns auf den Europa- und Bundestagswahlkampf vor: Wir wollen eine friedliche, demokratisch rechtsstaatliche und soziale EU. Aber keine Brüsseler Agentur für Deregulierung, Lohn und Steuerdumping, für Aufrüstung und „Battle Groups“. Den gescheiterten EU-Verfassungstext haben wir bekämpft, den Lissabonvertrag als einen Versuch hinter dem Rücken der Völker dieselben neoliberalen militaristischen Inhalte durchzutricksen haben wir ebenso abgelehnt. Heute aber sind wir die einzige Partei, die eine Verfassung für Europa will, die allerdings dem Grundgesetz, an das wir gebunden sind und sein wollen, ähnlicher als dem Wunschzettel von Nato und „Arbeitgeber“verbänden sein soll.
 
Dass wir für Frieden und Sozialstaat stehen, wird nirgends bezweifelt. Über den demokratischen Rechtsstaat und über die selbstverschuldeten sowie auch die nicht allein verursachten kriminellen Verfehlungen im Namen von Sozialismus und links haben wir (wie keine andere Partei auch nur annähernd) gestritten, gelitten und harte Entscheidungen getroffen. Wir haben uns diese Auseinandersetzung nie leicht gemacht. Aber heute können wir mit Fug  und Recht sagen: Es gibt bei uns niemanden, der linke Ziele mit Einbußen an demokratischer Rechtsstaatlichkeit erreichen möchte. Wir sind bereit, für dieses Grundgesetz „durchs Feuer zu gehen“.
 
Heute also sind wir in allen entscheidenden Parametern unserer Verfassung – Rechtsstaat, Sozialstaat und Frieden – DIE Grundgesetzpartei.
 


Viertens: Krise und Krieg, Chancen und Gefahren

 
Unsere Partei existiert nicht um ihrer selbst willen. Sie ist ein Werkzeug, mit dem Millionen abhängig beschäftigter, Sozialleistungen oder niedrige Renten beziehender, studierender und Schulen besuchender Menschen, kleine Selbständige und freiberuflich Tätige hoffen, ihre Lage verbessern zu können.
 
Sie ist gegründet in einer Zeit wachsender Gefahren.
 
Die Immobilien-Spekulationskrise in den  USA wird von interessierten politischen Kreisen zum einen als ein auf die USA beschränktes und zum anderen als ein im Großen und Ganzen überstandenes Ereignis beschrieben. Das ist Gesundbeterei. Der „schwarze Freitag“ im Oktober 1929 hat die Weltwirtschaft nicht über Nacht ins Chaos gestürzt. Damals wie heute brauchen Zusammenbrüche in der Finanzwirtschaft einige Zeit, um über die dann folgende Verknappung von Krediten auf die Realwirtschaft zunächst des Ursprungslandes der Krise, dann auch auf andere Länder der Weltwirtschaft durchzuschlagen. Deutschland als ein „exportlastiges“ Land wird von den Wellen dieser Krise stärker erfasst werden als andere. Die Arbeitslosigkeit wird steigen, der Druck auf die Löhne wird sich weiter erhöhen, die Steuereinnahmen werden sinken und damit wird sich der Druck auch auf die Sozialleistungen und Kleinrenten erhöhen. Vermutlich stehen wir daher mit unserem heutigen Landesparteitag am Vorabend einer spürbaren Abkühlung des Konjunkturklimas weltweit und in unserem Land.
 
Gleichzeitig nimmt in erschreckender Geschwindigkeit die Bereitschaft der herrschenden Kreise unseres Landes zu, Krieg immer selbstverständlicher zum scheinbar normalen Mittel zur Lösung von Problemen zu machen. Das gilt für die anhaltende Unterstützung des US-amerikanischen Krieges gegen das Volk des Irak, der ohne die Flug-Drehscheiben auf deutschem Boden nur schwer zu führen wäre. Das gilt vor allem für die schreckliche Bereitschaft, immer mehr deutsche Truppen mit immer martialischerem Kampfauftrag nach Afghanistan zu entsenden. Mitten in einem sich entfaltenden Wirtschaftskrisen-Szenarium wächst so die Bereitschaft, sich mit militärischen Mitteln Rohstoffe nicht mehr zu erkaufen, sondern zu rauben. 
 
Das Resultat ist eine politisch hochkomplizierte Situation, die uns als DIE LINKE alles an Klugheit, Mut, Weitsicht und Prinzipienfestigkeit abverlangen wird.
 
Wir müssen die Partei bleiben, in die all jene ihre Hoffnung setzen, die sich selbst – meist zu Recht – als Verlierer dieser Gesellschaft sehen. Wenn sie in uns keine Hoffnung mehr setzen, werden sie sich zu einem erheblichen Teil rechten Demagogen zuwenden.
 
Wir müssen noch viel stärker als bisher  die Partei der in den Gewerkschaften verankerten Arbeiterinnen und Arbeiter und Tarifangestellten werden, die sich – meist zu Recht – um ihren gerechten Lohn und um eine verlässliche Absicherung im Alter betrogen fühlen und die voller Sorge hinsichtlich der Zukunft ihrer Kinder sind.
 
Wir müssen noch viel stärker als bisher die Partei der Jugend werden, die sich um faire Ausbildungschancen gebracht  sieht und die gegen eine Verengung und Zurichtung des Studiums auf Wirtschaftsinteressen rebelliert.
 
Und wir können und sollten auch die Partei der vielen kleinen und mittleren Unternehmerinnen und Unternehmer werden, die unter dem Kaufkraftverlust der Masse der Bevölkerung ökonomisch leiden und deren Interessen sich immer mehr von denen der Finanz- und der internationalen Konzerne unterscheiden.
 


Fünftens: 7,1 Prozent und unsere Erfolgsgeschichte in Niedersachsen

 
Schon mit dem Nominierungsparteitag hatte der niedersächsische Landesverband als erster seiner Art im Bundesgebiet eine Pionierrolle einzunehmen. Damit und mit dem nachfolgenden Bundestagswahlkampf haben wir unsere Feuerprobe bestanden. Besonders der Anteil der künstlerischen Beiträge im Wahlkampf wurde unser Markenzeichen. Mit 7000 Menschen feierten wir die Abschlusskundgebung mit
Konstantin Wecker, Peter Sodann, Chumbawamba und Oskar Lafontaine u.v.a. vor der Hannoveraner Oper, wo Kanzler Schröder in seiner Heimatstadt zwei Tage zuvor 10 000 Menschen versammelt hatte. Wir haben unsere Durchbrüche immer auch kulturell realisiert – und dabei soll es auch bleiben. Ebenso intelligent waren unsere Kommunalwahlkämpfe angelegt und sogar auch teilweise inszeniert, die in eine Verzehnfachung der Mandate mündeten. Dass wir Zank und Strömungskämpfe meist überwanden, und – wo nicht – nicht in die konzerngesteuerten Medien dringen ließen, ist durchaus eine Besonderheit unseres niedersächsischen Wegs.  Die Fusion in Niedersachsen hatte wiederum Pilotcharakter: Wie Hessen mussten wir die schwierige Parteivereinigung bei  gleichzeitiger Vorbereitung der Nominierungen in den Wahlkreisen, beim Erarbeiten  eines Wahlprogramms, der mühsamen Begrenzungen auf wenige Schwerpunkte und den Vorbereitungen zum Wahlkampf leisten. Alle Gremien der Partei haben in großer Solidarität und Disziplin diese Doppelbelastung geschafft.  Unser  Landtagswahlkampf war mit den Plakatlosungen, bei der Kino-, TV- und Radio-Werbung kreativ und dennoch schlicht verständlich. 
Der  „Große Ratschlag“ soll  nun ein neues Kapitel aufschlagen im Verhältnis zwischen parlamentarischem und außerparlamentarischem Kampf. Auch durch ihn kamen wir um eine von den Medien forcierte alternative Dogmatik herum: Entweder uns auf Rotgrün-Verweigerung oder Pro-Regierungslager festzulegen. Wir wussten einerseits, dass viele unserer  Wähler eine engere Kooperation mit Rotgrün wünschen, aber viele unserer Mitglieder das komplette Gegenteil. Das hätte uns so auseinanderreißen können, wie anfänglich die Hessen. Andererseits ahnten wir, dass es zu einer Wechselstimmung in Niedersachsen kaum kommen würde. Wir sagten einfach den Medien und anderen „Inquisitoren“: Das entscheiden wir zwei Tage nach der Wahl mit unserer organisierten Wählerschaft, mit attac, mit Sozialverbänden, Antiatomkämpfern, Gewerkschafterinnen und Friedensbewegung beim „Ratschlag“ – und der Versuch, uns darüber zu spalten, ging in die Leere. Der „Ratschlag“, der uns zuerst aus der Zwickmühle halten sollte, wurde dann ein eigener Wert und einRiesenerfolg. Auch sein mediales Echo: die Linken meinen es ernst mit der Stimme des  Protests im Parlament.  Und jetzt werden wir ihn fest institutionalisieren. Nur, weil wir immer versucht haben aufeinanderzuzugehen, weil wir unseren innerparteilichen Streit nicht haben ausufern lassen, weil die Anhänger des Wechsel-Ansatzes und die des Oppositionsansatzes  beieinander blieben, gelang es den Medien nicht – auch nicht bei der späten Entscheidung – uns auseinander zu treiben.  Wir waren beweglich durch Einigkeit. Das soll uns in Zukunft erinnerlich bleiben, wenn Streit uns auseinanderzutreiben droht. Auseinandersetzung, wenn sie nicht um die bessere strategische Verbesserung der sozialen Lage unserer potenziellen Wählerschaft geführt wird, sondern nur als Fortsetzung des ordinären alltäglichen  „Jeder-gegen-Jeden“, ist eine weitere Schwächung der ohnehin Geschwächten  und wird dazu führen, dass sie sich enttäuscht von uns abwenden. Unseren  Mitgliedern, besonders den neuen wie denen, die lange dabei sind und hart arbeiten, ohne privilegierte Funktionen anzustreben, sind wir die Kraft schuldig, Gräben nicht gedankenlos aufzureißen, und – wo sie doch entstanden sind – diese zuzuschütten. Aber vor allen Dingen sind wir dies den Menschen schuldig, die eine  kraftvolle Opposition gegen die Kapitalherrschaft wollen, die sie tagtäglich sozial ausgrenzt und kulturell verhöhnen will.
 


Sechstens: Unsere nächsten Aufgaben

 
Die Linke ist eine Partei des Grundgesetzes und der parlamentarischen, das heißt auch der repräsentativen Demokratie. Deswegen leidet sie, wie andere demokratische Institutionen, unter der  Abkehr vieler Menschen von der Mitentscheidung durch Wahlen. Auch dann, wenn – wie wir in Niedersachsen soeben mit ca. 40 000 Stimmen mehr als bei der Bundestagswahl – gegen den Trend des Wahlbeteiligungsrückgangs Nichtwähler wieder für die parlamentarische Partizipation zurückgewonnen und dem unzivilisierten  Protest von Rechtsaußen Barrieren entgegengesetzt haben. Das „neoliberale“, turbokapitalistische Regime basiert nicht nur auf der sozialen Ausgrenzung, sondern auch auf einem Konzept, das die besonders Betroffenen besonders weit  von Wahlentscheidungen und anderem parlamentarischen Technikwissen abdrängt. Wer hier nur von „Selbstentmündigung“ der ärmeren Menschen schwadroniert, ist zynisch. Es ist immer und überwiegend die Schuld der Hauptakteure im medialen und parlamentarischen Feld, wenn ärmere und institutionsunkundigere Menschen immer weniger wählen – und es scheint eben auch in der Absicht der Herrschenden zu liegen.

Darum dürfen wir, wenn wir so wie und  mehr als andere Parteien an der „Willensbildung des Volks mitwirken“  Wir wollen den Grundgesetz-Auftrag auch dort verwirklichen, wo Teile  der Bevölkerung jede Hoffnung  darauf fahren ließen, in „sozialen Brennpunkten“ beispielsweise.  Wir müssen die Priorität nicht beim parlamentarischen, sondern beim außerparlamentarischen, nicht  beim innerinstitutionellen,  sondern beim kulturellen Leben bis in die Fugen der Gesellschaft und der Arbeitswelt sehen. Weil wir die repräsentative Demokratie ernst nehmen, müssen wir die direkte Demokratie fördern, um Vertrauen der Menschen in ein demokratisches, soziales Staatswesen neu zu beleben.
 
Oskar Lafontaine und Gregor Gysi werben für neue Elemente der direkten Demokratie, wie etwa eine Volksabstimmung in zentralen vertraglichen Europa-, Bundes- und Landesfragen. Eine Demokratie ohne direkte korrigierende Einflussnahme der breiten Mehrheit der Menschen, die gegenwärtig von den Parlamentsmehrheiten in keiner Weise mehr vertreten werden, wird verkümmern. Wir beleben hier in Niedersachsen diese direkte Demokratie, indem wir sie leben lassen: mit einer Bewegung für die Realisierung des Artikels 6a unserer niedersächsischen Verfassung, der die Landesregierung verpflichtet, daß von ihr beauftragte Unternehmer einen Lohn zahlen müssen, von dem die Beschäftigten ihren Lebensunterhalt bestreiten können. Nicht nur abstrakt, sondern konkret dafür werden wir in den kommenden Monaten die Instrumente der direkten Demokratie, die unsere Verfassung vorsieht, aktiv mit anderen Organisationen nutzen. 
 
Darum müssen wir auch im direkten Dialog mit organisierten sozialen, ökologischen und anderen demokratiepolitischen Initiativen Kontinuität beweisen. Im Sommer machen wir unser erstes „Parlamentarisches Fest“ (mit MdBs, MdLs, MdEPs, Kommunalparlamentarierinnen) gemeinsam mit Gewerkschaften und anderen außerparlamentarischen Bewegungen mit einem „Markt der Alternativen“ – und einem zweiten „Großen Ratschlag“.
 
Das wichtigste Mittel, abhängiger Menschen, sich zu wehren, ist der Streik. Wir werden darum kämpfen, daß auch in Deutschland möglich wird, was in anderen europäischen Ländern mit langer demokratischer Tradition selbstverständlich ist: der Streik als Mittel im politischen Kampf – bis hin zum Generalstreik, um sich gegen willkürliche Maßnahmen parlamentarischer Mehrheiten  oder gegen Versuche zu wehren, unsere demokratische Ordnung zu zerstören.
 
Wir werden im wahlkampffreien Jahr 2008 deutlich machen: DIE LINKE ist die Partei des Friedens. Wir lassen nicht zu, daß dieses Land Schritte für Schritt immer tiefer in die Kriege des US-Imperialismus hineingezogen wird. Wir fordern den Rückkehr aller deutschen Truppen aus Afghanistan und anderen Teilen der Welt. Wir setzen insbesondere dem geplanten Kampfeinsatz der 1. Panzerdivision Widerstand entgegen. 
Wir sind auch mit unseren roten Taschen mit der Aufschrift „Hier ist die Linke“ im Landtagswahlkampf nicht zum letzten Mal auf absehbare Zeit auf den öffentlichen Plätzen gesehen worden. Auch hier  beweisen wir langen Atem: Mit unserem einstimmigen Landesausschuss-Beschluss vom 16. Februar „Links kommt – vor Ort!“ werden wir an mindestens fünf Samstagen im Jahr mit einer Zeitung aus

überregionalen Neuigkeiten  aus parlamentarischem und  außerparlamentarischem Protest auf den Straßen Präsenz zeigen.
 
Der Beschluss unseres Landesparteitags vom 10. September 2007, unmittelbar nach der Landtagswahl auch mit der bislang zu kurz gekommenen Theorie- und Bildungsarbeit zu beginnen, wird vom Landesverband, seinen Kreisen und Gremien, unter Einbeziehung aller direkten und indirekten Möglichkeiten sofort angegangen. Dazu zählt auch der dauerhafte Kontakt an Ort und Stelle mit Wissenschaftlern, Künstlerinnen und anderen Intellektuellen.
 
Parallel dazu erhält der Landesvorstand den Auftrag, ab Sommer ein Wahlbüro zur Vorbereitung der Europa- und Bundestagswahlkämpfe einzurichten.

 

Siebtens: Kandidaturen und Listenaufstellungen bei künftigen Wahlen

 
Wir werden in Zukunft weiterhin um bekannte profilierte Kandidatinnen ringen, auch wenn die Landtagswahl gezeigt hat, dass auch ein kollegialer Stil im Wahlkampf die Talente der Linken nicht überdecken muss.  Je früher wir uns für Kandidaturen entscheiden, je mehr Zeit haben wir, unsere inhaltlichen Besonderheiten öffentlich herauszuarbeiten.
 
Auch in Zukunft halten wir fest am Prinzip der Sympathisantinnen und offenen Listen, damit auch Menschen, die noch Vorbehalte gegen eine direkt parteiorganisatorische Einbindung haben, außer- und innerparlamentarisch mitwirken können, ohne unter den Druck zu geraten, in unsere Partei eintreten zu müssen. Persönlichkeiten wie Prof. Dr. Norman Paech, einer der bedeutendsten  Völkerrechtler der Republik, Tobias Pflüger aus der Friedensbewegung, der Bundesrichter Wolfgang Neškovi  sind nur drei erfolgreiche Beispiele dafür. Denn auch Parteimitgliedschaft ist gerade bei einer so jungen und so schnell wachsenden Partei kein  hundertprozentiger Ersatz für künftig gründlichere Prüfung der für uns Kandidierenden. Auch Parteimitglieder haben nach Wahlen von der Europa-Ebene bis zur kommunalen Ebene bei uns zu bitteren Enttäuschungen beigetragen. Von Mitgliedern anderer Parteien auf unseren Listen empfiehlt der Landesparteitag abzusehen, wenn nicht vor Ort und über lange Zeit in zuverlässiger außerparlamentarischer Kooperation überwiegende Übereinstimmung mit den entscheidenden programmatischen Aussagen der Linken herausgearbeitet und gesichert werden konnte. Auf Bundes- und Landeslisten wird es schon allein rechtlich wohl keine  Kandidaturen von Mitgliedern anderer Parteien mehr geben können.
 
Wir sind nicht nur gekommen, um zu bleiben. Wir sind gekommen, um zu bleiben und dieses Land grundlegend zu verbessern. Wir begnügen uns nicht mit einem Platz am Tisch der Herrschenden, weil die, die auf uns setzen, wissen: Damit jeder in diesem Land in  Würde, Solidarität und gesicherten materiellen Verhältnissen leben kann, braucht es grundlegende Veränderungen.
 
Die, die auf uns setzen, werden immer mehr. Es darf und wird weder bei den 8,7 Prozent auf Bundesebene noch bei den 7,1 Prozent auf Landesebene bleiben. Wir nehmen mit aller Ernsthaftigkeit, aller Ruhe und mit historischem Optimismus Kurs darauf, zu einer sozialistischen Volkspartei zu werden.