Lieber Jan,
unser Gespräch vom Werbellinsee ging mir lange durch den Kopf. Wir haben es zwar in der üblichen heiteren Atmosphäre geführt, bei der wir uns ja auch zumindest nie einen Wortbruch gegenseitig zuschulden kommen ließen, aber Deine völlige Verdutztheit, wie es zu dieser starken Ablehnung von Dietmar Bartsch und seinem engeren Umfeld eigentlich kommen konnte, korrespondiert mit meiner Verständnislosigkeit für den Hass, der Oskar oft entgegenschlug (zuletzt Bockhahn usw.). Zunächst habe ich das versucht, nicht an anderen zu ergründen, sondern an mir. Es erhebt also keinen Anspruch auf Umfänglichkeit.

Sicherlich spielen Herzensdinge dabei eine Rolle, z. B. meine jahrzehntelange Liebe zu diesem besonderen Typen Oskar Lafontaine, gegen den sich Dietmar abfällig gegenüber den uns feindselig eingestellten zwei Hauptredakteuren beim „Spiegel“ geäußert hat und auch ansonsten nicht gerade freundschaftlich mit ihm umgegangen ist. Einem solchen verletzbaren Riesentalent wie Oskar, zu dem sogar sein Gegner Schröder gezwungen war, nach der Kanzlerschaft (!) zu sagen, es sei „das größte politische Talent, was ihm je über den Weg gelaufen ist“, zu dem der eher neoliberale SPD-Rechte Peter Glotz in seinem Sterbetestament schrieb, Oskar sei der einzig freundschaftsfähige und international eingestellte Politiker, den er kennengelernt habe, hat schon auch etwas Galligkeit bei mir hervorgerufen. Dass ich Dietmar im Vergleich zu Oskar für ein politisches Leichtgewicht halte, wirst Du mir vielleicht verdenken, aber ich kann nicht umhin, hier auch meine ehrliche Wahrnehmung wiederzugeben.

 

Dennoch glaube ich, dass dies alles damals noch im reparablen Bereich war. (Oskar und ich haben uns auch gestritten Ende der 80er Jahre, was Fritz Scharpf und seine Theorie von der Solidarität in einer Klasse angeht - und dennoch hat unsere Freundschaft nicht gelitten.) Und an Wolfgang Gehrcke (der ja nach dem Geraer Parteitag hauptsächlich meine Absetzung als stellvertretender Vorsitzender betrieben hatte) und mir siehst Du, dass Politik auch das Herz wieder freundschaftlich wenden kann. Wir sind uns einig und wissen beide, dass wir im Umfeld von Gera unsere gehörigen Beiträge und Fehler zu diesem Prozess beigetragen haben. Auch die 180°-Wendung im Verhältnis von Gregor Gysi und mir (Du erinnerst Dich ja noch an die schroffe Art, wie wir damals gegeneinander standen und die herzliche Art, wie wir heute kooperieren) zeigt, dass vieles in unserem Bereich reparabler ist, als man sich das im Auge des Streittaifuns vorstellt.

 

Und wenn ich noch eine andere subjektive Kleinigkeit anmerken kann, so verbinde ich das mit der Hoffnung, dass Du nicht zu der provinzrhetorischen Retourkutsche ausholst, es sei irgendeine Art von Beleidigtheit, die hier aus mir spräche: Wie Du weißt, habe ich einigen bürgerlichen Erfolg mit der Veranstaltung von Unterhaltung und Kultur gehabt. Das Management von BAP, Klaus Lage, bots und vielen anderen und später auch Katarina Witt war natürlich immer auch eines, was an der Organisation von „Live Events“ hing. Daneben habe ich „Rock gegen Rechts“ mit erfunden und die großen Veranstaltungen der Friedensbewegung gegen die Atomraketen für „Künstler für den Frieden“ arrangiert. Mit einem Wort: Man kann über vieles von mir streiten, aber: das kann ich! Es bleibt mir aber bis heute ein Rätsel, warum ich in den über vier Jahren, in denen ich stellvertretender Vorsitzender mit Dietmar Bartsch war, nicht eine einzige (in Worten: NULL!) Kulturveranstaltung habe selbstständig organisieren können.

 

Und hier bin ich eigentlich beim Kern dessen, wonach Du gefragt hast. In die möglicherweise überhöhte Ablehnung gegenüber Dietmar ist eine Angst hinein chiffriert, dass, wenn Ihr (FDS, „Bartschisten“, Bartsch-FreundInnen) eine Mehrheit habt, Ihr Andersdenkenden (die nicht zu Eurem Inner-Circle) keinen Platz, keine Betätigung ihrer Talente, ja, oft nicht mal eine echte Diskussionsfreiheit lasst. Und das korrespondiert mit alter PDS-Erfahrung und ärgert dann besonders, wenn es gleichzeitig mit der Verhöhnung von Leuten wie mir einhergeht: „Nun stellt Euch doch nicht so an, wir wollen doch hier keine Strömungspolitik. Vergesst doch mal die Strömungen. Wir sind doch alle Linke! Und voller Meinungspluralität.“

Wir führten unser Gespräch am Sonntag am Werbellinsee. Wohlbemerkt, einer Pfingst-Veranstaltung, die der Parteivorstand mitfinanziert, und die nicht vom FDS veranstaltet war.

 

Aus meiner ganz persönlichen Sicht war das so: ich kam an und wurde mit einem Spottgesang unter dem Dirigenten Mark Seibert empfangen. (wohlbemerkt: Bartschkritiker waren unter den Funktionsträgern dort eine kleine Minderheit – und andere von ihnen fanden sich auch dort ähnlich angemacht und ausgegrenzt.) Gut, so etwas stecke ich (ein wenig traurig) lachend weg. Dann komme ich ans Zelt, vor dem eine Gruppe, überwiegend BAK Shalom-Mitglieder, zusammensaß und sehe den ersten Workshop. Die Veranstaltung hieß: „Wohin treibt Europa?“ Es diskutieren „strömungsübergreifend“ Heinz Vietze mit Helmut Scholz. (ich als Schatzmeister der Partei der europäischen Linken und Europapolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion und für Europapolitik im Parteivorstand zuständig bin für danach für ein Kulturprogramm angemeldet, aber niemand kommt auf die Idee, um der Diskursivität der Veranstaltung und der Spannung willen, mich etwa hier kontrovers mit einzuladen.)

 

Der zweite Workshop dieses Pfingstwochenendes hieß: „Wohin geht DIE LINKE?“. Es diskutieren wiederum „strömungsübergreifend“ Jan Korte, Steffen Bockhahn, Steffen Harzer, Halina Wawzyniak, Raju Sharma. Naja…

Ihr seid dann vernünftigerweise auf die Idee gekommen, mich spontan auf die Bühne zu holen. (Die „Diskussion“ bestand darin, dass jede/r ein Statement von drei bis vier Minuten hatte und wir eigentlich gar nicht ins Gespräch kommen konnten.) Hättet Ihr diese Veranstaltung des Parteivorstands nicht zu einem reinen FDS-Treffen gemacht und würdet Ihr das in Zukunft nicht tun, wäre zweierlei erreicht: Erstens: Das Treffen vom Werbellinsee wäre viel breiter „aufgestellt“ und das käme diesem wunderbaren Grundanliegen künftig auch zugute und der Pfingsttreff verdient auch neuen Zuspruch. Und zweitens: Ihr nähmt etwas von der Angst , dass Ihr überall da, wo Ihr „den Daumen drauf“ habt, anders Denkende möglichst von vornherein nicht zu Wort kommen lasst.

 

Dies ist nämlich die reale Angst! Es gibt weder beim Neuen Deutschland (dessen Geschäftsführung und Chefredaktion eindeutig D. Bartsch und dem FDS nahestehen) einen entscheidenden Redakteur oder leitenden Redakteur, der der antikapitalistischen Seite nahesteht, noch bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung, die ähnlich gestrickt ist, irgend einen Abteilungsleiter, der eine Position hätte, wie sie etwa Oskar Lafontaine, Sahra Wagenknecht oder andere gegen die Eurokrise radikal formulieren. Auch das KL Haus ist unter Dietmar Bartsch ohne Pluralität personell zusammengesetzt worden.

 

Ich will Dir vom Werbellinsee noch eine kleine Anekdote erzählen. Wolfgang Gehrcke und ich haben bekanntlich ein Lob für Klaus Ernst geschrieben, das zwei Kernelemente enthält: Erstens, dass Klaus mit unglaublicher Klugheit und Geduld den Prozess hin zu unserem erfolgreichen Parteiprogramm gestaltet und moderiert hat. Und zweitens, dass Klaus Ernst ein erfahrener Streikführer ist und dass Streik das entscheidende auch in der Linken noch weitgehend übersehene zivilisatorische Element des aufrechten Gangs, der Zivilisation und der Zivilcourage darstellt. Streik nämlich, wo sich Menschen organisiert der Kapitalisierung mit ihrer Arbeitskraft verweigern, ist der Moment, in dem am meisten Rassismus überwunden wird, am meisten Vorurteile zwischen den Geschlechtern, am meisten Brücken gebaut werden zwischen Alt und Jung, also am meisten wirklich Solidarität als neue Herzlichkeit erlebt und erkämpft wird. In diesem Bereich ist Klaus Ernst einfach hervorragend und diese Erfahrung dürfen wir in der neuen Parteiführung keinesfalls vernachlässigen.

 

Und nun kommt das Kuriosum: Es kommen drei wichtige Funktionsträger des Werbellinseetreffens zu mir und sagen wie abgesprochen und im identischen Wortlaut, Gehrcke und ich hätten den Stalinpreis verdient wegen des „Lobs für Klaus Ernst“. Sie setzten mich sogar in die Nähe von Leuten, die irgendwelche Oden an Kim Il Sung geschrieben hätten. Fällt denn wirklich niemandem auf Eurer Seite auf, was der qualitative Unterschied ist, wenn man immer bei der Macht stehen möchte, oder wenn man - fast im Herzen eingebaut - den Reflex hat, bei Schwachen und Ohnmächtigen zu stehen? Klaus Ernst liegt am Boden. Die Medien trampeln auf ihm rum, er ist für den nächsten Parteivorstand faktisch abgeschrieben. Und er hat doch nach anfänglichen Fehlern auch Großartiges geleistet. Das beschreiben wir gegen den Medien-Mainstream.

 

Ist das nicht etwas ganz anderes, als vor irgendwelchen Parteiführern zu katzbuckeln, die über Staatsmacht und Medien verfügen? Haben die drei, die mich da als Stalinpreis-Verdächtigen angriffen (alles frühere Mitglieder der SED) wirklich gegen eine Staatsmacht vor 1989 rebelliert? Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass Klaus Ernst nichts mit den Horrorgestalten Stalin oder Kim Il Sung zu tun hat. Das in die Nähe zu rücken, ist billige Provinzrhetorik, die den inneren Kern, die Beziehung zu Macht und Ohnmacht, völlig außer acht lässt. Das ist vielleicht meine größte Angst in Bezug auf Euer Lager, dass Ihr so arglos meint, den Tiger reiten zu können, die hiesige Macht, die SPD, den einen oder anderen SPIEGEL-Redakteur etc.

 

Ich schreibe das jetzt als 62 jähriger in dem Wissen, dass ich vielleicht nur noch eine kurze Zeit in politischer Funktion tätig sein werde. Aber Du bist ja wesentlich jünger und hast lange Zeit vor Dir. Versuche vielleicht, das zu übernehmen: Wenn man stark ist und Macht hat, dann ist der Zeitpunkt (und nicht, wenn das vorüber ist) die Hand auszustrecken mit anderen Positionen zu teilen und Andersdenkende, Unterlegene besonders einzubeziehen.

 

Eines habe ich jedenfalls in den 47 Jahren, in denen ich jetzt Parteipolitik und Kunst zusammen zu bringen versuche, gelernt: hinter fast allen Persönlichkeitsauseinandersetzungen, die die bürgerlichen Medien als reine Gockelei darstellen, steckt ein Richtungsstreit. Nicht immer ein Richtungsstreit der intellektuell ausformuliert ist, aber einer von Haltungen und Kulturtechniken. Und ein Großteil dessen, was an Vorbehalten gegen Deinen Freund Dietmar besteht, hängt damit zusammen, dass in seiner Amtszeit auch die Stellenbesetzungen und Abteilungsleiter im Karl Liebknecht Haus einer antikapitalistischen Strömung, die mindestens die Hälfte unserer Parteibasis ausmacht, niemals geöffnet, sondern diese mit teilweise auch sehr rigiden Mitteln ausgegrenzt und unterdrückt wurden. Mit der Verhöhnung für die Ausgegrenzten: „Wir sind doch eine Familie! Keine Strömungspolitik“.

 

Versuche Du es, wenn Du in einer entsprechenden Funktion bist, anders. Du könntest es. Und du weißt, dass wir in Niedersachsen auf dieser Basis eine Zeit lang recht konstruktiv hatten kooperieren können. Ich habe immer versucht in Niedersachsen talentierte Andersdenkende zu fördern, egal ob sie rechts oder links von mir standen. Und vielleicht können wir in Zukunft Fehlervermeidungsprogramme auflegen, die dann solche Frontstellungen, wie gegenwärtig in unserer Partei, von vornherein vermeiden helfen.

 

Mit solidarischen Grüßen

Dein Diether