Regierungserklärung zur Europapolitik / Linke kritisiert »Wettbewerbskannibalismus«
Die BRD will während ihrer EU-Ratspräsidentschaft das Projekt einer europäischen Verfassung vorantreiben.
Neues Deutschland - 12.05.2006 - in der Printausgabe
Berlin (Agenturen/ND). Wichtig sei, dass es keinen »Schnellschuss«
gebe, »sondern dass wir überlegen, wie wir das Projekt
Verfassungsvertrag zu einem Erfolg führen können«, sagte
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) in ihrer Regierungserklärung zur
Europapolitik am Donnerstag in Berlin. Zudem will Merkel die Bürger
stärker für das Projekt Europa begeistern. Zwar seien die negativ
ausgegangenen Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden ein
Rückschlag für den Verfassungsprozess gewesen, sagte Merkel im
Bundestag. Der Verfassungsprozess sei aber dringend notwendig, um ein
»handlungsfähiges Europa« zu haben. Daher werde sich die deutsche
Präsidentschaft »spätestens« damit befassen. Deutschland übernimmt im
ersten Halbjahr 2007 den Vorsitz im Europäischen Rat.
»Europa steht bei den Bürgern nicht so hoch im Kurs, wie der historische Rückblick es erwarten ließe«, sagte Merkel weiter. Es gehe »um nicht mehr und nicht weniger, als dass wir der historischen Begründung eine Neubegründung hinzufügen«. Die Bundeskanzlerin nannte Bildung, Forschung und Innovation, die Innen- und Rechtspolitik sowie Transparenz und Effizienz als Bereiche, in denen sich die EU weiterentwickeln müsse. Der Bürokratieabbau sei »die Notwendigkeit der Stunde«, erklärte sie, ohne Einzelheiten zu nennen. Zur Erweiterung der Union sagte die Kanzlerin, alles, was versprochen sei, werde auch umgesetzt, allerdings unter den verabredeten Bedingungen. »Die Kriterien müssen erfüllt werden.«
Dies gelte für Bulgarien ebenso wie für die Türkei. So halte sie es für wichtig, dass in der kommenden Woche, wenn der Fortschrittsbericht für Bulgarien und Rumänien vorgestellt wird, auch die Defizite sowie Wege zu ihrer Behebung klar benannt würden. Die EU könne nicht alle aufnehmen, die Mitglied werden wollten. Der Europapolitische Sprecher der Linksfraktion im Bundestag, Diether Dehm, verwies in Erwiderung der Merkel-Rede auf die »klare« Botschaft des französischen und niederländischen Referendums: »Die Leute - auch die Mehrheit der Deutschen, die Sie per Volksabstimmung zu Wort kommen zu lassen höchst vorsorglich nie gewagt haben -- wollen keine Verfassung, vor der sie in Deckung gehen müssen, und keinen ungehemmten Wettbewerbskannibalismus.« Die Linkspartei wolle entsprechend ihrem Entschließungsantrag einen Verfassungsvertrag, der »die Grundintention eines sozialen, friedfertigen und demokratischen Europas im Geiste seiner Gründer und Gründerinnen und im Einklang mit dem Willen der Bevölkerungsmehrheit in den EU-Mitgliedstaaten widerspiegelt«.
Linksfraktionschef Gregor Gysi warnte vor einer »neoliberalen Dumpingpolitik« in der EU. In Europa dürfe es keine Entsolidarisierung geben. Gysi forderte eine einheitliche Steuerpolitik in der Union. »Wir sind ein Binnenmarkt mit einer Binnenwährung und haben völlig unterschiedliche Steuern«, kritisierte er. »Das ist nicht zu verkraften.« Der Fraktionschef lehnte zugleich eigene Streitkräfte für Europa ab.