Drucken
Kategorie: Presse 2005

Zur aktuell erschienenen  Autobiographie des SPD-Vordenkers Peter Glotz
Prof. Dr. Peter Glotz, der frühere Bundesgeschäftsführer der SPD und Mitstreiter Willy Brandts war nach seinem Ausscheiden aus dem Bundestag Gründungsrektor der Universität Erfurt und Hochschullehrer. Der unbequem eigenwillige Sozialdemokrat  hat bis in diesen Sommer an  seiner Biographie gearbeitet. Es wurde sein politisches Testament. Diether Dehm, einst  von Glotz  in die Medienkommission beim SPD-Parteivorstand berufen, blieb  ihm freundschaftlich und in kultur- wie medienwissenschaftlichen Projekten – zuletzt an Glotz´ Institut in St. Gallen – verbunden.
Wer eingreift, macht sich schmutzig, muss sich auch korrigieren. Von der Identität der Abweichungen und derlei  Beschädigungen handelt dieses selbstkritische weil kritische Buch eines Widerwortgebers, den zum SPD-Bundesgeschäftsführer gemacht zu haben, sich einzig Willy Brandt erlauben konnte. Und er verhalf uns, damaligen „MarxistInnen in der SPD“ aus der inneren Verbannung als „Stamokaps“ in die offizielle Parteidiskussion. Ergo schreibt er in Bezug auf innerparteiliche Gegnerschaft: „Noch heute bin ich der Meinung, dass eine Integrationspartei so handeln muss.“ (S.211)
Er bereut, einst Karl Schiller „als Verräter gebrandmarkt“ zu haben. Und fährt fort: „also beschimpfe ich Oskar Lafontaine jetzt nicht als Verräter… obwohl ich seine Liaison mit der PDS nicht verstehe“ (S.10). Was hätte er als marktfixierter Sozialdemokrat bis in diesen Juli 2005 nicht alles schreiben können? Von Gehässigkeit jedoch – etwa gegen die „Linkspartei“ – kein Anflug! Auf diesen 331 Seiten, die eine Fundgrube bedeutend ausdeutbarer Widersprüche sind. So bekennt sich Glotz zu frühem Antikommunismus. Und daneben: „Ich verstand Brechts Entscheidung, in die DDR zu gehen.“ (145) Und er lobt „den großen italienischen Kommunisten Antonio Gramsci… der unermüdlich durch die Schützengräben der Gesellschaft gestrichen war… um Menschen zu bekehren“(S.235). Für eine abgefederte Studiengebühr stritt er öffentlich. Und doch empörte ihn „am meisten aber das Klassensystem der Bildung, in dem die Arztsöhne Ärzte…die Arbeiterkinder aber unten festgehalten wurden.“ (S.111)
Mit Heiterkeit hat er mich auch diesmal zitiert: „Mein Genosse Diether Dehm … besuchte mich, schaute die Bilder an und bemerkte trocken: `Immerhin wir haben die Mehrheit´“(S.52). Es hatte sich um Bilder von Benn und Jünger sowie von Remarque, Feuchtwanger und Brecht gehandelt.
Dies Buch aber enthält (Ab-)Geklärtes aus ganz anderem Härtegrad. Gerade für Marxisten sind diese (Über-, Ein- und An-) Sichten  eines Widerstreiters beim „Immerernsternehmen des marxistischen Ideengebäudes“ (S. 109)  von großem Nutzen für das organisierte Bereichern am Andersdenkenden, ja, an fremdem Denken. Ohne solcherlei im Widerspruch erworbene Weisheit wird die Arbeiterbewegung nicht hegemoniefähig. Und ohne solche Grenzgänger wirken Wege wie richtige Richtungen, nur weil sie ausgetreten sind.
So setzt auch das anrührende Kapitel über seine für die Kriegs-„Drückebergerei“ des Vaters „kompromisslos kämpfende“, und dafür denunzierte tschechische Mutter  Beweggründe frei, warum sich  Glotz  für ein „Zentrum gegen Vertreibung“ so stark gemacht hat – und so angreifbar. Es setzt Leser einer dialektischen Versuchung aus, die sich Sozialisten nicht ersparen sollten. „Wir haben nicht vergessen, wer den Zweiten Weltkrieg  angefangen hat – Hitler, und zwar mit der Zustimmung… viel zu vieler Täter, Mittäter und Mitläufer… Das ist aber kein Grund, der deutschen Opfer, die es eben auch gab, nicht zu gedenken…“   Man muss ihm nicht zustimmen. Aber Peter Glotz, der sich zwinkernd „halt einen böhmischen Patrioten“ nennt - „die deutschen Patrioten mögen mir das verzeihen“. (S.288) - fragt „als Gegner jedes Nationalismus“: „Wer greift das wirkungsvoll auf: derzeit vertreiben radikale Kosovo-Albaner unter den Augen Europas die serbische Bevölkerung…“(S.37)
Die zweieinhalb Kapitel über seinen Aufstieg aus der rechten bayrischen Parteiminderheit zum MdB und schliesslich Bundesgeschäftsführer, über seinen andauernden Ärger mit ex-leninistischen und nun antithetisch-gefesselten Linkenfressern, wie Herbert Wehner und Ben Wischnewski, lesen sich wie weitere Miniaturen zur Innenarchitektur - nicht der Macht, aber immerhin der SPD. Auch dabei richtet er ebenso schmerzhaft Fragen gegen Mainstream, wie gegen sich und den linken Correctness-Zeitgeist (z.B. mit Helmut Schmidt gegen den EU-Beitritt der Türkei). So zu Leistungen der Großen Koalition: „Kaum war Willy Brandt Aussenminister, kaum hatte Gustav Heinemann mit der Entrümpelung der Rechtspolitik begonnen, schon brach uns „die Jugend“ weg…warum waren ihnen Leistungen wie das Gesetz über Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, das Arbeitsförderungs- und das Berufsbildungsgesetz gleichgültig…?“(S.109)   „Technokratisch, macht- und staatsorientiert wie ich war, hielt ich solchen Mao-Dadaismus für irrationalen Unsinn… Leider haben … ich und andere Staatslinke dieser Jahre ihre Versprechungen nicht halten können. Der Sozialstaat wurde ab- und nicht aufgebaut.“ (S.158). Und zu den Berufsverboten: „Der Radikalenerlass war eine Chemotherapie, ... deren Nebenwirkungen gefährlicher, als die Krankheit… einer unserer größten Fehler.“ (S.164/165)
Wenn in Nachrufen bis eben zu lesen war, Glotz sei zuletzt contra Lafontaine gewesen, intoniert das Buch, zumindest im Metatext, durchaus Gegenteiliges: Lafontaine „war mutig, massenwirksam, frankophil und antinational. Er war ein Europäer, kein Teutscher,… undogmatisch, freundschaftsfähig, locker und ungeheuer lebendig. Das Bürgertum erstarrte…Garant für die Bekämpfung neu aufkommenden Nationalismus…“ (266/7)
Glotz bekennt, daß er 1989/90 selbst „kein Anhänger der Wiedervereinigung war“. „Kohl… wischte die Argumente von Bundesbank und Sachverständigenrat weg…“ Dann das Attentat. „Wieczorek…weinte: „Immer wenn einer von uns zu hart die Wahrheit sagt, passiert so was.“ (S.266) „Lafontaine lag im Krankenbett… machte ein Nein zur Währungsunion zur Bedingung… die Spitze der SPD pilgerte immer wieder zu ihm. Brandt schrieb ihm handschriftliche Briefe…  Immer wieder rief der Rekonvaleszent Lafontaine beim Vorsitzenden der Ost-SPD an…. Eher amüsiert denn bedrängt hielt Böhme in Anwesenheit seiner Mitarbeiter den Hörer in die Luft…“ Am 21.Juni 1990 hielt Glotz dann für die 25 SPD-Abgeordneten, die den Einigungsvertrag ablehnten, die Rede im Bundestag. „Ich war noch kaum ans Rednerpult getreten, als der kleine drahtige… Gallus von der FDP dazwischenkrähte: „ `Ja wo ist er denn, wo ist Oskar? Ist er wieder in Urlaub gefahren?´... Lafontaine wurde verhöhnt, weil er behauptete, die Wiedervereinigung könne bis zu 100 Milliarden DM kosten. Sie hat bis heute über 1000 Milliarden Euro gekostet und die Bundesrepublik ist beim Wachstum zu einem Schlusslicht in der OECD geworden.“ (S.274/5)“ 
„Der Architekt des Sieges 1998 hiess Lafontaine… der hätte die Wahl selber auch gewonnen.“ Den Krieg der Rotgrünen gegen Jugoslawien hatte auch Glotz vehement bekämpft  („Als …Schröder und Fischer noch vor ihrem Amtsantritt 1998 ins Weisse Haus fuhren, um sich einweisen zu lassen…  nirgends habe ich …Instrumentalisierung … brutaler erlebt…“ S. 308)
Und schliesslich: Schröder habe mit seinen „einsamen Spielzügen… präsidialem Stil in einer repräsentativen Demokratie… der SPD ihren Charakter … einer verlässlichen Linkspartei“ genommen. Ihn gibt Glotz jetzt endgültig verloren: „Er hat sich mit den letzten Saltos… versprungen“. Nicht einmal „sicher“ ist sich der Parteivordenker, ob die SPD noch einmal „die Chance einer Renaissance“ oder aber das Schicksal der PSI Craxis bekommt.
Brechts Aufklärungs-Poem „Gegen Verführung“ mag dazu ein roter Faden gewesen sein: zwei eher unauffällige Sichtstellen deuten an, von wo Glotz Gelassenheit und Weisheit für dieses Vermächtnisses her bezogen haben mag. „Das Menschenleben zwängt sich durch die Tage…man brezelt sich auf, schlägt ein Rad, erobert eine Frau, einen Mann, eine Position, mehrere Positionen, es zeigt nach oben, aber dann Karzinom, Chemotherapie, Bangen, Warten, Hoffnung und irgendwann ist es aus.“ (S.68).    Und auf der letzten Seite 331 notiert er eher beiläufig von einem Plattenepithelkarzinom, von Komplikationen bei der Operation: „Ich hielt mir die Öffnung  im Hals, die wegen eines Luftröhrenschnitts notwendig geworden war, zu. Die Mitarbeiterin, die das Diktat  aufnahm, hatte große Schwierigkeiten , meinen Text aus dem Gepfeife herauszulösen, das aus dem Tonband drang… der lange Weg von Heimat zu Heimat  für mich ist beendet.“
Peter Glotz: Von Heimat zu Heimat
Erinnerungen eines Grenzgängers.
ISBN: 3430132584
Bei Libri
Der Artikel ist außerdem unter: http://www.nd-online.de/artikel.asp?AID=78143&IDC=13 erschienen