»Bolkestein«: Gewerkschaften, Verbände und Linkspartei debattierten Gegenstrategien
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Von Velten Schäfer - 23.03.06
Den leicht entschärften Februar-Kompromiss zur Dienstleistungsrichtlinie verteidigen – oder in Sachen soziales Europa in die Offensive gehen? Eine Anhörung der Linken im Bundestag.
Die EU-Dienstleistungsrichtlinie, melden die Agenturen zum Auftakt des EU-Gipfels, sei »zwischen den Regierungen noch heftig umstritten«. Das Deregulierungspaket zur »Vollendung des Binnenmarktes«, ein Kernstück der so genannten Lissabon-Strategie, könnte nach Informationen der Bundestags-Linksfraktion nochmals neu verhandelt werden. Um Großbritannien, Italien und osteuropäische Staaten habe sich eine Front gebildet, die das im Februar vom Europaparlament entschärfte »Herkunftslandprinzip« wieder zuspitzen wolle, sagt deren Sprecherin für internationale Wirtschaftspolitik, Ulla Lötzer. Für die jetzige Fassung träten Deutschland, Österreich und Frankreich ein.
Deutsche Verbraucherschützer und Gewerkschaften dagegen finden auch die entschärfte Fassung in vielen Punkten problematisch.

Wasser, Bildung, Non-Profit-Sektor

Ein Stein des Anstoßes ist dabei die Wasserwirtschaft. Zwar sind Wasserversorgung, Wasserverteilung und Abwasserentsorgung nach dem Kompromissentwurf weiterhin den Zielland-Normen unterworfen. Doch habe die EU-Kommission, meint Erhard Ott vom ver.di-Vorstand, »ihr Ziel, die Wasserversorgung zu liberalisieren, noch lange nicht aufgegeben«. Die Ausgliederung von Wartung und Instandhaltung, Abrechnung, Umweltschutz und anderen Wasser-Diensten stehe nun auf der Tagesordnung. Betroffen seien 70 Prozent der 100 000 Beschäftigten der deutschen Wasserwirtschaft.

Harte Kritik am Kompromiss des EP kommt weiterhin auch von der GEW. Die Entschärfung habe im Bildungsbereich »keinerlei Verbesserungen« gebracht, sagt Matthias Ambul vom Vorstand der Lehrergewerkschaft. Der gesamte Bildungsbereich müsse ausgenommen werden. Bisher seien die Regeln unklar: Liegt eine Dienstleistung im Sinne der Richtlinie dann vor, wenn Gebühren entrichtet werden? Oder, wie der Europäische Gerichtshof es auslegt, wenn eine Einrichtung überwiegend staatlich finanziert wird? Hier müsse für Klarheit gesorgt werden. Am besten dadurch, dass Bildung auf internationaler Ebene als Grundrecht definiert werde.
Auch Jürgen Klute macht sich Sorgen. Der Leiter eines Sozialpfarramtes im Ruhrgebiet vermisst im Richtlinienentwurf die Erwähnung seiner Branche: »Gemeinwohlorientierte Dienstleistungen kennt diese Richtlinie überhaupt nicht«. In seinen Augen zielt das Regularium »in der Tendenz auf die Abschaffung des gemeinnützigen Sektors«. Zudem erhöhe sie den Druck auf die Wohlfahrsverbände, die sich jetzt noch am Tarif für den öffentlichen Dienst orientierten. Der Entwurf verpflichtet Dienstleister zwar darauf, gesetzliche Mindestlöhne im Zielland einzuhalten – verhandelte Tariflöhne aber stehen nicht unter Schutz.

Selbstständigkeit exakt definieren

Katja Mrowka vom Verbraucherzentrale-Bundesverband steht der Richtlinie auch nach der Überarbeitung »sehr kritisch« gegenüber. Die Daseinsvorsorge müsse in Gänze ausgenommen werden. Dennoch sei es nun vordringlich, »nicht mehr hinter das Erreichte zurückzufallen«.
Frank Schmidt-Hullmann von der IG BAU sieht den Abwehrkampf gegen Deregulierung dagegen in größerem Zusammenhang. Man müsse zum Beispiel auch GATS im Auge behalten. Auf die Dienstleistungsrichtlinie selbst würde Schmidt-Hullmann gerne mit einer Leiharbeitsrichtlinie antworten. Außerdem müsse, um Lohndumping durch Scheinselbstständigkeit vorzubeugen, der EU-Selbstständigenbegriff vereinheitlicht werden: »Wir brauchen da eine strenge Definition«. Ebenso fehle ein europäisches Unternehmensregister. Auch ver.di schlägt vor, die Dienstleistungsrichtlinie mit einer Rahmenrichtlinie zu kontern, die positiv und im Detail regeln soll, was unter Daseinsvorsorge zu verstehen sei.
Linksfraktions-Europasprecher Diether Dehm möchte die Kritik an der Dienstleistungsrichtlinie mit der Debatte um die derzeit auf Eis liegende EU-Verfassung verbinden. So, meint Dehm, könne die Bewegung für ein »soziales Europa« offensiver werden und ihren reaktiven Chrakter verlieren.