Linkspartei-Spitzenkandidat Diether Dehm spricht über Kunst und Politik und schimpft auf "Hubertus Unheil" Andrea Hunger: Sie sind Künstler, und Sie sitzen im Bundestag. Zu wieviel Prozent ist Diether Dehm eigentlich Linkspartei-Abgeordneter?

Ich hatte auch als Unternehmer den Ruf eines Arbeitswütigen. Ich muss aber gestehen: Soviel wie jetzt als Abgeordneter habe ich noch nie gearbeitet. Das macht 80 Prozent. Man sollte sich nicht davon täuschen lassen, dass das Plenum mal leer ist.

Auch dass Wehner gesagt hat, der Bundestag sei mal voller, mal leerer, aber immer voller Lehrer, hat mit der Realität wenig zu tun. Auch die Kollegen anderer Parteien will ich vor dem Faulenzer-Vorwurf in Schutz nehmen. Die Zeit für meinen Roman "Bella Ciao" und die Lieder muss ich mir regelrecht abtrotzen.

Andrea Hunger: Ich arbeite als Personalvermittlerin und erlebe tagtäglich, dass unsere Vorstellungen des Arbeitslebens an vielen Stellen überholt sind. Diese geradlinige Biografie von der Ausbildung bis zur Rente bei demselben Unternehmen ist selten geworden. Wie stellen Sie sich den Arbeitsmarkt in zwanzig Jahren vor?

Wenn von betriebswirtschaftlicher Rationalisierung die Rede ist, sollte immer auch die Volkswirtschaft im Auge behalten werden. Ohne eine starke Binnen-Kaufkraft kann kein mittelständischer Betrieb auf Dauer überleben.

 Deswegen befürworte ich klassische, sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse mit Löhnen, von denen man leben kann. Und einen gesetzlichen Mindestlohn. Die Globalisierung, die oft wie eine Schicksalsmacht vorgeschoben wird, hat auf mich nur einen geringen Einschüchterungsgrad.

Als Sozialist sage ich: Ich bin für einen starken, freundlichen Staat. Nehmen Sie das Folgende bitte nicht persönlich – das Unternehmen, für das Sie sprechen, kenne ich ja gar nicht. Aber das, was Arbeitsvermittlungsfirmen gelegentlich treiben, ist unsittlich. Wir kommen an diesen Stellen einer Sklavenhalter-Gesellschaft gefährlich nahe.

Fredegar Henze: Ich erinnere mich gern an die oft feuchtfröhlichen Abende früher in der Wohngemeinschaft. Die Lieder der Gruppe "Bots" gehörten dazu, auch "Was woll’n wir trinken" natürlich. Erst später erfuhr ich, dass Sie für diese Gruppe die Texte geschrieben haben. Und ich wundere mich darüber, dass gerade Sie heute in einer Partei arbeiten, in der es wimmelt vor altbackenen Figuren und Betonköpfen. Was treibt Sie an?

Ich möchte zunächst den Begriff Betonkopf etwas rehabilitieren. Beton ist auch der Stoff, aus dem man Fundamente gießt. Ich war 33 Jahre lang in der SPD, da gab es durchaus auch soziale und demokratische Betonköpfe. Es geht nicht ohne Organisation und eine bessere Ordnung. Die Biene macht die Wabe organisch, der Mensch muss sein Glück und seine Arbeit organisieren. Darum brauchen wir sozial gerechte Regeln zwischen den Starken und Schwächeren.

 Ein Wort zur Linkspartei: Weil ja Wulff seine müden Wähler mit dem Kommunisten-Gespenst mobilisieren möchte, hatten wir gestern im Landesvorstand eine lange Diskussion über kommunistische Parteigeschichte und die Idee des demokratischen Sozialismus. Da waren Ältere dabei wie das frühere SPD-Mitglied, der IG-Metaller Walter Gruber aus Salzgitter, der einst als Kommunist verfolgt worden war, aber auch Studenten. So ein tiefgehendes, kluges, freundschaftliches Gespräch habe ich selten erlebt.

Oft gab es ja links nur zwei Grundideen: Entweder zuerst Revolution und dann auf den neuen, besseren Menschen warten oder Umerziehung. Mir sind beide Ansätze eher unheimlich. Wir müssen die Wirtschaft demokratisieren mit Menschen, die keine Heiligen sind, sondern oft kleine Schweinchen. Aber wir streiten gegen die großen Sauereien: Massenarbeitslosigkeit, Klimakatastrophe und Krieg.

Fredegar Henze: Aber Eure Rhetorik enthält vieles von dem Vokabular, das mich an die alten Debatten im Sozialistischen Studentenbund erinnert. Wie könnt Ihr das ewig wiederholen? Was sollen zum Beispiel konkret die "revolutionären Brüche" sein, die so wichtig sein sollen für die Gesellschaft von morgen?

Die klassische marxistische Strategie zielte auf den einen revolutionären Bruch, Sturm aufs Winterpalais oder die Pariser Bastille. Das ist nicht realistisch. Wenn ich von mehreren demokratischen Brüchen spreche, meine ich Streikfähigkeit, und auch, dass eines Tages Linke vom Wähler in die Regierung geschickt werden. Dann würde gesetzlich so manches in den öffentlich-rechtlichen Bereich zurückgeholt: die Deutsche Bank, RWE und die Stromnetze, die Bahn... In die Aufsichtsräte könnten dann Greenpeace, Attac und so.

Das ist eine Herausforderung an die Phantasie: Stellt Euch vor, wie wir auf dem Boden unseres wunderbaren Grundgesetzes mehr Demokratie in der Wirtschaft erreichen! Es geht darum, Entscheidungen zum Wohle auch der sogenannten einfachen Menschen zu treffen, die keine parteichinesischen Programme lesen können. Eine Bundesregierung kann erst dann links wirken, wenn selbst in der CDU die Bürgermeister sagen: Die Privatisierung kostet uns nur Geld und bringt nichts; erst wenn dieser gesamtgesellschaftliche Druck in der Eigentumsfrage bis in die CDU geht.

Thorsten Stelzner: Und wenn die Linke tatsächlich an die Regierung käme, dann wäre es ganz vorbei mit dem Künstler-Leben, oder?

Nun, noch sind wir die Partei, die der Herr Wulff durch seinen Verfassungsschutz bespitzeln lässt und so im Wahlkampf einzuschüchtern und zu behindern sucht. Ehrlich, was hier in Niedersachsen abläuft, ist schon ein kleines Watergate. Wulff weiß: Nur, wenn wir ins Parlament kommen, ist seine schwarz-gelbe Mehrheit gefährdet. Dann ist sie aber auch gefährdet.

 Doch wenn ich mir wirklich vorstellen soll, wie es ist, als Künstler in einer Regierung zu arbeiten, dann denke ich an Mikis Theodorakis. Der war Minister – und Künstler. Trotzdem bleibt es schwierig. Wer ernsthaft Texte schreibt, die nicht oberflächlich sein sollen, muss die Türe hinter sich zumachen können. Wie bei Meditation. Zum Beispiel in meiner Scheune, ohne Telefon und Ablenkung.

Andrea Hunger: Sie sprachen vorhin von den einfachen Menschen. Ich habe aber auch gelesen, dass Sie angesichts dessen, was Sie durch Ihre Lieder oder durch Unternehmensbeteiligungen einnehmen, Ihre Abgeordneten-Bezüge als "Nebeneinkünfte" bezeichnet haben. Können Sie sich wirklich noch vorstellen, wie es ist, wenig Geld zu haben?

Die Bemerkung mit den Nebeneinkünften klang etwas flapsig arrogant. Trotzdem sprechen Sie ein großes Problem an. Kann ich, können wir hochbezahlten Abgeordneten wirklich nachempfinden, wie es ist, im Supermarkt Margarine zu vergleichen, ob eine nicht doch vier Cent billiger ist? Ich versuche es, zum Beispiel dadurch, dass ich – auch ohne Journalisten – immer mal wieder in einem Krankenhaus arbeite oder in einem andern Betrieb, um hinzuhören. Außerdem hat man Wurzeln. Mein Vater war Schlosser und mein Großvater Mülleimerleerer. Ein Klo für vier Mietparteien? Ich weiß noch, wie das ist.

Thorsten Stelzner: Den Umfragen zufolge stehen die Chancen für Sie nicht schlecht. Die Frage ist, ob Sie mit der SPD zusammengehen.

Niedersachsens SPD ist seit den Siebzigern als wenig zuverlässig bekannt – besonders bei geheimen Wahlen. Schon gar, wenn die neoliberalen Großkoalitionäre Hubertus Heil und Gerd Andres die Strippen ziehen. Eine Koalition ist wenig realistisch. Und wir können auch aus der Opposition viel für gebührenfreie Bildung, erneuerbare Energie und Arbeitsplätze tun.

Fredegar Henze: Sind dies nicht persönliche Gockeleien? Besonders Oskar Lafontaine scheint nicht frei von persönlichen Motiven.

Sie schätzen ihn völlig falsch ein. Ich zitiere gerne Brandt, Glotz und Schröder über Lafontaines enormes politisches Talent und seine persönliche Integrität. Oskar sagt doch: Beck könnte in diesem Bundestag morgen Kanzler werden, wenn er nur die Bundeswehr heimholt und Harz IV in die Tonne tritt.