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Kategorie: Reden

 

Für eine Europäische Verfassung: sozial, gerecht und friedlich
Rede von Dr. Diether Dehm im Plenum des Deutschen Bundestages anlässlich des Tagesordnungspunkts: "Regierungskonferenz zur Änderung der vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union und Unterrichtung der Bundesregierung entsprechend Ziffer VI der Vereinbarung zwischen Deutschem Bundestag und der Bundesregierung über die Zusammenarbeit in Angelegenheiten der Europäischen Union":

 

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Es wird Sie nicht wundern, dass wir den Antrag der Koalitionsfraktionen ablehnen.

(Kurt Bodewig [SPD]: Das hätte ich jetzt aber nicht vermutet!)

Kollege Silberhorn, ich hätte wirklich, nachdem Sie in dem ganzen Verfahren zwischen Bundesregierung und Bundestag doch so ein entscheidender Faktor waren, erwartet, dass Sie etwas deutlicher an die Seite des Kollegen Löning getreten wären. Die Frage ging in eine ganz andere Richtung. Es ist eine Farce, wenn nur zwei Monate verhandelt wird und einen Monat vor Ende der Verhandlungen das Einvernehmen erzielt werden soll.
Den zu erwartenden Vertrag über die Veränderung der EU-Grundlagen werden wir ablehnen. Nach dem Scheitern des Verfassungsvertrages bei den Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden werden seine wesentlichen neoliberalen und militaristischen Inhalte

(Lachen bei der CDU/CSU – Kurt Bodewig [SPD]: Unsinn wird auch durch Wiederholung nicht wahrer!)

mit einem Taschenspielertrick neu als „Reformvertrag“ verpackt. Aus einem alten, gekippten Wein wird nichts Gutes, lieber Kollege Bodewig, nur weil man ihn mit einem neuen Etikett versieht. Klammheimlich soll das an den Völkern vorbeigetrickst werden.

(Michael Roth [Heringen] [SPD]: Getretener Quark wird breit, nicht stark!)

Dass wir das nicht mitmachen, wissen Sie.
Es soll nur ein komplizierter Änderungstext, nicht eine lesbare Gesamtfassung vorgelegt werden. Niemand soll einfach nachlesen können, was in den neuen Verträgen steht. Man muss die geltenden Verträge und den Änderungsvertrag schon nebeneinanderlegen, um sich wie bei einem komplizierten Puzzle ein Gesamtbild machen zu können.

(Markus Löning [FDP]: Das macht Arbeit, das stimmt!)

Das ist Zynismus gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern, gegenüber dem demokratischen Souverän. Keiner soll sich wundern, wenn die Begeisterung für das Projekt der europäischen Integration weiter sinkt. Oder sind Desinteresse und Verwirrspiel gar gewollt?
Wenn Europa gelingen soll, dann kann das nur friedlich und sozial geschehen und nicht mit diesem Verfassungssurrogat hinter dem Rücken der Völker. Die Linke, auch die europäische Linke, fordert deshalb in allen Mitgliedstaaten Volksabstimmungen. Dafür werden wir rechtzeitig eine Ergänzung des Grundgesetzes beantragen.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Charta der Grundrechte – teils kritikwürdig, teilweise aber zu unterstützen – wird nicht einmal integraler Vertragsbestandteil, und es wird zugelassen, dass einzelne Mitgliedstaaten sich den sozialen Regelungen per Opt-out entziehen.
Oberstes Prinzip im Vertrag bleibt der – ich zitiere – „Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ als Grundlage von noch mehr Deregulierung und Privatisierung, Lohn-, Steuer- und Sozialdumping. Unser Grundgesetz verpflichtet aber alle deutschen Politiker auf Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit. Das sind drei gleichwertige Pfeiler. Warum lassen Sie zu – ich frage nicht nur die Vertreter meiner früheren Partei, sondern Sie alle, die teilweise auf das Grundgesetz vereidigt sind –, dass im neuen Vertrag nur noch von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, aber nicht mehr von Sozialstaatlichkeit die Rede ist? Wer gegen die Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes verstößt, verstößt gegen das Grundgesetz. Das dürfen Sie nicht, auch wenn Bundestag und Bundesrat einem Reformvertrag mit einer Mehrheit von zwei Dritteln zustimmen.
Auch wenn wir die Einzigen sind: Wir wollen eine richtige Verfassung, die auch so heißt, verständlich, sozial und friedlich, damit die Menschen überzeugt Ja sagen zu Europa. Wir, die Linke, werden dabei den Geist des gesamten Grundgesetzes verteidigen –

(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)

mit dem Sozialstaatsgebot –, notfalls auch gegen Sie. Erinnern wir uns: Der gescheiterte Verfassungsvertrag ist auch von deutscher Seite nicht ratifiziert worden, Kollege Schäfer. Wir im Bundestag können ihn gar nicht ratifizieren, sondern dazu wird die Unterschrift des Bundespräsidenten benötigt. Das Bundesverfassungsgericht hatte das Verfahren angehalten. Das wird mit Ihrem Änderungsvertrag nicht anders sein. Es wird spannend werden in Deutschland und Europa – ich verspreche Ihnen: auch durch die Linken.

(Beifall bei der LINKEN)