Zur Aussage des Bundestagspräsidenten Lammert, die Rechte der nationalen Parlamente in Angelegenheiten der Europäischen Union nicht weiter auszuweiten, hat der europapolitische Sprecher der Fraktion DIE LINKE., Diether Dehm folgenden öffentlichen Brief an den Präsidenten gerichtet:
Sehr geehrter Herr Präsident,
in der heutigen Süddeutschen Zeitung habe ich mit einigem Erstaunen gelesen, dass Sie sich gegen eine Ausweitung der Rechte der nationalen Parlamente in Angelegenheiten der Europäischen Union ausgesprochen haben. Da es sich bei der genannten Zeitung um ein ausgesprochen seriöses Blatt handelt, gehe ich davon aus, dass die Meldung zutrifft.
Sie haben sich nach dem Bericht gegen den Vorschlag des niederländischen Ministerpräsidenten gewandt, der vorgeschlagen hatte, der Mehrheit der nationalen Parlamente ein Vetorecht gegen Rechtsetzungsakte der EU einzuräumen. Als bessere Alternative nannten Sie die im EU-Verfassungsvertrag und den dazu gehörenden Protokollen vorgesehene Subsidiaritätsklage. Dazu werden Sie wie folgt zitiert: „Damit wird der Begriff Subsidiarität von einer rhetorischen Formel zu einem juristisch belastbaren Prinzip.“ Leider erwähnen Sie in diesem Zusammenhang nicht, dass die juristische Entscheidung über eine solche Klage beim Europäischen Gerichtshof liegen soll.
Der Europäische Gerichtshof zeichnet sich in seiner Rechtsprechung aber gerade dadurch aus, dass er neben der Kommission über lange Zeiträume und jenseits des Vertragstexts kontinuierlich eine Ausweitung von Zuständigkeiten der EU betrieben hat. In Fragen der Subsidiarität würde hier der Bock zum Gärtner gemacht. Wenn es schon eine gerichtliche Überprüfung geben soll, ob die EU Angelegenheiten regelt, die besser oder genau so gut auf der Ebene der Mitgliedsstaaten geregelt werden können, dann müsste hierfür eine Instanz zuständig sein, die aus den Verfassungsgerichten der Mitgliedstaaten gebildet wird.
Besser aber ist, was Herr Balkenende vorgeschlagen hat: Die Parlamente als unmittelbare Repräsentanten der Völker entscheiden darüber, ob die Grenzen der Zuständigkeiten überschritten sind, die der EU- und der EG-Vertrag auf die EU übertragen haben. Denn in Kraft gesetzt wurden die Verträge mittels parlamentarischer Zustimmungsgesetze oder Volksentscheide.
Ich glaube: Das ist insgesamt eine grundsätzliche Frage des Parlaments- wie des Demokratieverständnisses. Ich möchte Sie als den obersten Repräsentanten des Deutschen Bundestags daher bitten, Ihre Position noch einmal zu überdenken und Ihren politischen Einsatz uneingeschränkt für die Stärkung der parlamentarischen Rechte des Bundestags einzusetzen.
Ich erlaube mir, dieses Schreiben der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Diether Dehm