Traditionspflege mit Zukunftsaussichten

Lieder am Lagerfeuer, im Seminar und auf der Bühne. Zum sechsten Mal seit den 1960er Jahren, vom 19. bis 21. Juni, fand der Linke Liedersommer auf der Burg Waldeck statt. Das Festival wurde vom Deutschen Freidenker-Verband ausgerichtet. Bei dieser Gelegenheit sprach der „Schattenblick“ mit Diether Dehm, dessen Kulturarbeit, künstlerische Arbeit und Erinnerung bis zum ersten Burg Waldeck Festival zurückreichen.

 

dd burg waldeck 2015Schattenblick (SB): Diet­her, du hast die Burg-Wal­deck-Fes­ti­vals der 1960er Jahre selbst als Lie­der­ma­cher ken­nen­ge­lernt. Wie hast du da­mals den Kon­flikt zwi­schen der blo­ßen Auf­füh­rung von Lie­dern und der po­li­ti­schen Aus­ein­an­der­set­zung mit ihren In­hal­ten er­lebt?

 

Diet­her Dehm (DD): Die Wal­deck war in der Ade­nau­er-Zeit ge­bo­ren, einem ex­tre­men An­ti­kom­mu­nis­mus an­ti­po­disch ge­schul­det und wurde emp­fun­den als ein Auf­at­men des frei­en Geis­tes hier an die­sem zu­rück­ge­zo­ge­nen Ort gegen eine Kul­tur, in der 66/67 sogar De­mons­tran­tIn­nen, die gegen den Viet­nam­krieg pro­tes­tier­ten, ihre Schil­der von Bau­ar­bei­tern blu­tig über den Kopf ge­schla­gen wur­den. Die­ses schlim­me, re­stau­ra­ti­ve Ade­nau­er-Den­ken reich­te selbst in die Ge­werk­schaf­ten und in die Ar­bei­ter­schaft tief hin­ein.

Des­we­gen hat sich hier, wenn man so möch­te, zu­nächst eine mul­ti­pli­ka­to­ri­sche Elite des frei­en Geis­tes und der Frei­den­ke­rei eta­bliert, und des­we­gen ist es auch gut, daß die Frei­den­ker in die­sem Jahr das klei­ne Nach­fol­ge­fes­ti­val ver­an­stal­ten. Ei­ni­ge 68/69er glaub­ten da­mals, die Zeit des Sin­gens sei vor­bei. Sie in­ter­pre­tier­ten eine Zeile von De­gen­hardt - Zwi­schen­tö­ne sind nur Krampf im Klas­sen­kampf - etwas über und schluß­fol­ger­ten dar­aus, jetzt müsse statt zu sin­gen und Bal­sam zu ver­sprü­hen auf der Stra­ße ge­kämpft wer­den. Über die stra­te­gisch-tak­ti­sche Dis­kus­si­on soll­te der Ge­sang zu­rück­ge­stellt wer­den. Es wird mir in ir­gend­ei­ner Bio­gra­phie eines gro­ßen Künst­lers un­ter­stellt, ich sei einer von denen ge­we­sen, die den Ruf "stellt die Gi­tar­ren in die Ecke" mit­ge­tra­gen hät­ten. Das ist falsch. Ich habe ges­tern abend lange mit Die­ter Klemm von Floh de Co­lo­gne ge­spro­chen, und er sagte mir, daß Gerd Woll­schon von den Flö­hen die­ser Grup­pe zu­ge­hört habe.

Üb­ri­gens war Hen­ryk M. Bro­der einer der Ober­stö­ren­frie­de, der von ganz links außen an­de­re Mei­nun­gen nicht zu Wort kom­men ließ, was bis heute seine Art ge­blie­ben ist, wenn auch mit an­de­ren Vor­zei­chen. Heute ist er mit den Herr­schen­den als Ket­ten­hund ver­bün­det, da­mals war er der Kläf­fer und Ter­ri­er von ganz links­au­ßen. Ich glau­be, daß die Pa­ro­le falsch war, weil zum Bei­spiel je­mand wie Hanns Die­ter Hüsch, der im be­son­de­ren ein Leid­tra­gen­der die­ses Vor­gangs war, oder auch Rein­hard Mey mit ihren Lie­dern mehr zum Hu­ma­nis­mus und zur Zi­vi­li­sie­rung der Ge­sell­schaft bei­ge­tra­gen haben als viele, die mein­ten, sich schrei­häl­sig selbst nach vorne spie­len zu müs­sen, um in ir­gend­ei­ne Ka­me­ra hin­ein­zu­kom­men.

 

SB: Du warst 18 Jahre alt, als du 1968 bei den In­ter­na­tio­na­len Es­se­ner Sonn­ta­gen einen Preis für das Stück "Kar­rie­re" be­kom­men hast. Wie kam es dazu, daß du früh­zei­tig kri­ti­sche Lie­der ver­faßt hast?

 

DD: Die Mo­ti­va­ti­on dazu war Teil mei­ner per­sön­li­chen Fa­mi­li­en­ge­schich­te. Ir­gend­wann als sehr jun­ger Mensch stand ich in Bu­chen­wald und habe auch Orte ge­se­hen, die re­la­tiv bru­tal mit mei­ner Fa­mi­li­en­ge­schich­te in Ver­bin­dung stan­den. Da­mals habe ich die Ent­schei­dung ge­trof­fen, gegen die zu kämp­fen, die Hit­ler an die Macht fi­nan­ziert hat­ten wie zum Bei­spiel die Deut­sche Bank, Krupp, Thys­sen oder Stin­nes. Daher waren mir schon früh an­de­re Fra­gen nicht mehr so wich­tig; am wich­tigs­ten war, Leu­ten die Mit­tel, mit denen sie Krie­ge un­ter­stützt und Hit­ler fi­nan­ziert hat­ten, aus der Hand zu schla­gen.

 

SB: Viele Künst­ler und Mu­si­ker leben heute im Pre­ka­ri­at. Der Ber­li­ner Maler Tho­mas J. Rich­ter hat ein­mal in einem In­ter­view ge­schil­dert, wie viel bes­ser die Um­stän­de für Künst­ler in der DDR ge­we­sen waren. Gibt es in der Par­tei Die Linke Be­stre­bun­gen, dem Be­reich der Kul­tur wie­der mehr Raum zu ver­schaf­fen, damit Men­schen un­be­ein­träch­tigt von Ver­mark­tungs­zwän­gen künst­le­risch tätig sein kön­nen?

 

DD: So­wohl die alte Bun­des­re­pu­blik, aber vor allem die DDR haben viel mehr als das heu­ti­ge ver­ei­nig­te EU-Füh­rer­deutsch­land für das Ge­dei­hen der Küns­te getan. Eins muß man al­ler­dings auch sagen: Wer sich zum Bei­spiel wie Die­ter Sü­ver­krüp oder Franz-Jo­sef De­gen­hardt auf die Seite der An­ti­im­pe­ria­lis­ten schlug, er­hielt in der Regel keine För­de­rung. So weit ist die Bun­des­re­pu­blik wie üb­ri­gens auch die DDR nicht ge­gan­gen, wie man an der Aus­bür­ge­rung von Wolf Bier­mann er­ken­nen konn­te. Die To­le­ranz hatte ihre Gren­zen, und ich er­war­te mit Aus­nah­me des Fa­schis­mus, daß man wirk­lich eine brei­te To­le­ranz zu­grun­de legt. Mein An­spruch endet nicht an der Rück­be­sin­nung auf die alte Bun­des­re­pu­blik und auch nicht bei der ei­gent­lich kul­tur­si­chern­de­ren DDR. Ich möch­te wirk­li­che To­le­ranz, daß Künst­ler auch dazu er­mu­tigt wer­den, gegen den Strich zu sin­gen, zu schrei­ben und zu malen.

Wir hat­ten al­lein in Ba­den-Würt­tem­berg in jeder grö­ße­ren Kleinstadt ein Kul­tur­zen­trum, wo wir als Lie­der­ma­cher auf­tre­ten konn­ten. Die Grö­ne­mey­ers, Lages und Lin­den­bergs konn­ten al­lein am Kla­vier oder an der Gi­tar­re dem Pu­bli­kum an den Augen ab­le­sen, wo die Ten­denz hin­geht. In die­sen La­bo­ra­to­ri­en wur­den die Grund­la­gen für spä­ter er­folg­rei­che Rock­bands und große Ap­pa­ra­te ge­legt. Sie hat­ten nicht immer große Ap­pa­ra­te, viel­leicht mit Aus­nah­me von Lin­den­berg. Aber an­de­re wie Katja Epstein, Rein­hard Mey und Han­nes Wader, die spä­ter grö­ße­re Um­sät­ze mach­ten, haben erst ein­mal in die­sen klei­nen Kunst­kel­lern, Li­te­ra­turzir­keln und Kam­mer­spiel­thea­tern ihr Pu­bli­kum und sich selbst am Pu­bli­kum er­probt, so auch ihre Poin­ten wie Jür­gen von der Lippe und ver­schie­de­ne an­de­re Leute, die spä­ter als Come­dy-Stars groß raus­ge­kom­men sind. Das alles ist na­he­zu weg­ge­bro­chen, viel­leicht sind noch 20 Pro­zent davon übrig.

Das ist aber auch ein Ver­lust für die große kom­mer­zi­el­le Kul­tur. Ich will damit sagen: Wer die klei­ne Kul­tur schä­digt, schä­digt auch die große Kom­merz­kul­tur, wer in die klei­ne Kul­tur zu wenig Geld in­ves­tiert, wird spä­ter viel mehr Geld in der gro­ßen Kul­tur und viel mehr Ta­lent-Scouts und Mar­ke­ting-Re­se­arch brau­chen, um her­aus­zu­krie­gen, was das Pu­bli­kum denkt. Wenn der Künst­ler am klei­nen und mitt­le­ren Pu­bli­kum ka­piert, wie ein Pu­bli­kum re­agiert, dann ist das geld­spa­rend. Schon aus rein fi­nan­zi­el­len Grün­den ist es falsch, an der Kul­tur­stel­le zu spa­ren oder To­le­ranz und Frei­heit ein­zu­en­gen, weil Künst­ler, die unter Zwang ar­bei­ten, in der Regel schlech­te Ar­beit leis­ten oder wie Mar­tin Lu­ther sagte: Aus einem ver­zag­ten Arsch kommt kein fröh­li­cher Furz. Daß wir neben Mit­ter­nachts­spit­zen und an­de­ren RTL-Pro­duk­tio­nen plötz­lich Sen­dun­gen wie die An­stalt oder die Heu­te-Show haben, was kei­ner für mög­lich ge­hal­ten hat und wo auch ein paar linke Sa­chen vor­kom­men, ist ein Pen­del­rück­schlag auf eine Zeit, in der es nur noch harm­lo­se, dümm­lich grin­sen­de und laue Zoten rei­ßen­de Co­me­di­ans gab, die ein Er­geb­nis der Ein­schüch­te­rungs­pha­se sind, bloß keine Po­li­tik an­zu­fas­sen, weil man sonst kei­nen Sen­de­platz kriegt.

 

SB: Du warst an der selbst­or­ga­ni­sier­ten AG Song be­tei­ligt, die aber als Pro­jekt 1994 wie­der ein­ge­gan­gen ist. Warum hat sich die­ser Zu­sam­men­schluß von Lie­der­ma­chern und Lie­der­ma­che­rin­nen nicht be­währt, und hältst du sol­che For­men von ba­sis­de­mo­kra­ti­scher Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on heute noch für zu­kunfts­träch­tig?

 

DD: AG Song ist in Nürn­berg beim Bar­den­tref­fen ent­stan­den. Dort hat der ei­gent­lich fort­schritt­li­che so­zi­al­de­mo­kra­ti­sche Kul­tur­de­zer­nent Her­mann Gla­ser ge­sagt, wir stel­len Büh­nen in die Stadt, bit­ten Frau Schi­cke­danz von Quel­le und an­de­re ein biß­chen zu spon­sern und er­stat­ten den Künst­lern die Hälf­te der Fahrt­kos­ten. Im Ge­gen­zug dür­fen sie auf den Büh­nen frei agie­ren. Dar­auf­hin be­gann ein Hauen und Ste­chen unter den Künst­lern, wer end­lich auf­tre­ten darf. Das be­traf na­tür­lich die­je­ni­gen, die an­sons­ten nicht auf­tre­ten konn­ten, weil sie ent­we­der kei­ner ge­wollt hat - es gibt auch schlech­te Lie­der­ma­cher - oder weil sie ein­fach zu jung waren, um schon er­probt zu sein.

Dann kamen Klaus Lage und ich und sag­ten, Leute, wir müs­sen uns or­ga­ni­sie­ren, das ist eine Rie­sen­aus­beu­tung. Denn es gibt auch Künst­ler, die teil­wei­se oder größ­ten­teils davon leben, und denen kann man nicht ein­fach eine Bühne hin­stel­len, das halbe Fahr­geld er­stat­ten, aber sonst kein Ho­no­rar geben. Da­hin­ter ste­cken rie­si­ge städ­ti­sche Gel­der. Frau Schi­cke­danz und an­de­re ma­chen Pro­gramm­hef­te, in denen sie kos­ten­los ihre In­se­ra­te zig­tau­send­fach unter die Leute brin­gen. So haben wir mit einem Streik der Lie­der­ma­cher durch­ge­setzt, daß die Fahrt­kos­ten ganz er­stat­tet wer­den und es ein Min­dest­ho­no­rar von 250 D-Mark gibt. Das war der erste Streik der Lie­der­ma­cher über­haupt in der deut­schen Ge­schich­te, den Klaus Lage und ich - so lern­ten wir uns üb­ri­gens auch ken­nen - in Nürn­berg or­ga­ni­siert haben. Dann wurde diese Idee hier auf der Wal­deck unter dem Ge­schäfts­füh­rer Ste­phan Rög­ner und an­de­ren wei­ter­ge­führt.

Das Pro­blem war, daß die pro­mi­nen­ten Künst­ler an­de­re Ar­beits­pro­ble­me hat­ten als die we­ni­ger pro­mi­nen­ten. Das heißt, die we­ni­ger Pro­mi­nen­ten woll­ten, koste es, was es wolle, auf die Bühne, nutz­ten auch ihre El­len­bo­gen dazu hin­ten und vor der Ku­lis­se, wäh­rend die ech­ten Pro­mis auf der Bühne schau­en müs­sen, daß sie nicht um ihre Co­py­rights ge­bracht wer­den, wie das jetzt zum Bei­spiel mit dem Frei­han­dels­ab­kom­men wie­der ak­tu­ell wird. Des­we­gen drif­te­ten die In­ter­es­sen aus­ein­an­der. Am Ende war die AG Song hier auf der Wal­deck nur noch von B- und C-Pro­mi­nen­ten wie mir be­setzt. Dann gab es auch sol­che, die wie ich Lie­der für an­de­re er­folg­rei­che­re Stars ge­schrie­ben und damit ihr Geld ver­dient haben. Sie waren nicht so dar­auf an­ge­wie­sen, auf die Bühne zu gehen.

Klar gehe ich gerne auf die Bühne, weil jeder, der auf die Bühne geht, es nötig hat, aber ich war trotz­dem nicht so unter Druck, an­de­re schon, und für sie ging es darum, wie komme ich auf die Bühne. Auch wenn viele vor­der­grün­dig etwas an­de­res ge­sagt haben, ging es um die­ses Motiv. Für die Pro­mi­nen­te­ren ging es da­ge­gen um Pro­ble­me wie Zen­sur im Fern­se­hen, Co­py­rights und so wei­ter. Des­we­gen haben wir par­al­lel zu AG Song "Künst­ler für den Frie­den" ge­grün­det, um gegen Atom­ra­ke­ten, aber teil­wei­se auch gegen Atom­kraft­wer­ke zu pro­tes­tie­ren. Auf diese Weise haben wir die Pro­mi­nen­ten und die we­ni­ger Pro­mi­nen­ten mit ihren un­ter­schied­li­chen Ar­beits­fra­gen unter einen Hut ge­bracht. Das war nach­hal­ti­ger und hat län­ger ge­wirkt als AG Song, die am Ende an den klei­nen Ego­ma­ni­en der Kul­tur­schaf­fen­den ein­ge­gan­gen ist.

 

SB: Das Thema TTIP wird im Be­reich der Kul­tur nicht be­son­ders stark the­ma­ti­siert, auch wenn der Deut­sche Kul­tur­rat vor kur­zem einen Ak­ti­ons­tag dazu ab­ge­hal­ten hat. Wel­che Ge­fah­ren siehst du durch das TTIP auf Kunst­schaf­fen­de zu­kom­men?

 

DD: Jede Li­be­ra­li­sie­rung im öko­no­mi­schen Be­reich ist ver­däch­tig, nichts an­de­res zu sein als das Recht des Stär­ke­ren. Von Willy Brandt stammt der Satz: "Wir wol­len das Recht des Stär­ke­ren durch die Stär­ke des Rechts er­set­zen". Li­be­ra­li­sie­rung heißt in die­sem Sinne, die­ses Recht wie­der ab­zu­schaf­fen und durch Recht­lo­sig­keit zu er­set­zen. Nicht zu­fäl­lig wird im Ver­trag der Eu­ro­päi­schen Union allen voran eine un­ge­hemm­te Wett­be­werbs­fä­hig­keit ge­for­dert. Ins Bild ge­setzt heißt das, ein Reh­kitz und einen Tiger in einen Käfig zu sper­ren und dann die Schei­de­wand zwi­schen bei­den Tei­len des Kä­figs weg­zu­zie­hen. Ich habe für Joe Co­cker, Chris­to­pher Cross, Cur­tis Sti­gers und an­de­re ge­schrie­ben, aber seit 20 Jah­ren nicht einen Dol­lar aus den USA ge­se­hen. Das ist die Li­be­ra­li­sie­rung dort. Von der Gema krie­ge ich we­nigs­tens meine Kohle. Des­we­gen bin ich auch ein An­hän­ger der Gema trotz aller Kri­tik, daß sie klei­ne Ver­ei­ne zu sehr schröpft. Aber im Prin­zip ist sie eine gute Ein­rich­tung. Wenn ich rich­tig im Bilde bin, kämpft die Gema mitt­ler­wei­le gegen das TTIP und bil­det eine star­ke Front da­ge­gen. Ich finde es rich­tig und wich­tig, daß alle, die Ur­he­ber­recht und Leis­tungs­ver­wer­tungs­recht zu ihrer le­bens­öko­no­mi­schen Basis haben, sich gegen diese Art des Wirt­schafts- und Kul­tur­im­pe­ria­lis­mus weh­ren.

 

SB: Du hat­test mit Mikis Theo­do­ra­kis im Rah­men des Eu­ro­päi­schen Kul­tur­netz­wer­kes Kon­takt. Er wird jetzt 90 Jahre alt. Ist er noch die Stim­me des grie­chi­schen Wi­der­stan­des oder hat man ihn als Künst­ler schon aufs Al­ten­teil ge­scho­ben?

 

DD: Wenn man 90 Jahre alt ist und seit 1967, als er von den griechi­schen Fa­schis­ten ins KZ ge­bracht wurde, ein ge­lähm­tes Bein hat, dann ist man bei­des, teil­wei­se auf dem Al­ten­teil und teil­wei­se die Stim­me des Wi­der­stan­des. Es gibt auch eine Dia­lek­tik, die vom Alter her­kommt. Man kann nicht mehr einen har­ten Punch schla­gen, weiß aber bes­ser als an­de­re, wie der Punch geht. Des­we­gen ist Theo­do­ra­kis ak­tu­ell na­tür­lich nicht mehr der Kom­po­nist für die grie­chi­sche Wi­der­stands­be­we­gung.

Als ich vor zwei Jah­ren in Athen mit Al­exis Tsi­pras mei­nen Ge­burts­tag ge­fei­ert hatte, be­such­ten wir mit dem da­ma­li­gen grie­chi­schen Staats­prä­si­den­ten Ka­ro­lis Pa­pou­li­as und Gre­gor Gysi Mikis Theo­do­ra­kis. Ob­wohl er lie­gen und das Bein hoch­le­gen mußte, hat­ten wir den Ein­druck, daß der Geist des An­ti­fa­schis­mus un­ge­bro­chen von der Zeit bis 1945 und dann noch­mals von 1967 bis heute im Kern sei­nes kul­tu­rel­len Schaf­fens steht. Beide Male war der Fa­schis­mus mit Deutsch­land ver­ban­delt ge­we­sen, und das gilt bis heute, wo deut­sche Fi­nanz­mi­nis­ter ihren Teil dazu bei­tra­gen, daß eine Öko­no­mie ge­stärkt wird, die Zehn­tau­sen­de von Kin­dern jeden Tag in der Welt frißt. Diese Öko­no­mie hat sich auch der In­ter­na­tio­na­le Wäh­rungs­fonds auf seine Fah­nen ge­schrie­ben. Was Theo­do­ra­kis mit der groß­ar­ti­gen Sir­ta­ki-Mu­sik in Al­exis Sor­bas, mit dem Canto ge­ne­ra­le und den Oden an den grie­chi­schen An­ti­fa­schis­mus ge­schrie­ben hat, ist der Geist, aus dem sich auch große Teile der gegen die EU und die deut­sche Vor­herr­schaft des EU-Im­pe­ria­lis­mus ge­rich­te­ten Wi­der­stands­kräf­te näh­ren.

 

SB: Du hat­test dich für die Stär­kung des Im­pe­ria­lis­mus-Be­grif­fes aus­ge­spro­chen. In die­sem Sinne könn­te man auch vom deut­schen Im­pe­ria­lis­mus spre­chen.

 

DD: Wir sind nicht die Opfer, wir sind die Täter. Darin un­ter­schei­de ich mich von einem Teil der Mon­tags­mahn­wa­chen.

 

SB: Dem­ge­gen­über gibt es aber auch die An­sicht, daß wir hier in einem be­setz­ten Land leben wür­den. Was hältst du davon?

 

DD: Wir leben teil­wei­se in einem be­setz­ten Land, aber das wird von den Herr­schen­den und neo­li­be­ra­len Eli­ten hier gerne ge­se­hen. Es war immer gerne ge­se­hen, daß zum Bei­spiel in der Eifel Atom­waf­fen sta­tio­niert sind und die NATO von hier aus ihre ver­bre­che­ri­schen Kriegs­feld­zü­ge ge­plant hat. Ich habe nie er­lebt, ob das nun Schmidt, Kohl, Schrö­der oder Mer­kel waren, daß ir­gend je­mand ernst­haft ge­sagt hat: "Wir sind be­setzt, das ist ja un­er­hört". Die Herr­schen­den hier spie­len doch gerne über Brüs­sel oder die NATO am Volk vor­bei. Sie haben das doch in der Hand. Eine deut­sche Kanz­le­rin und eine deut­sche Bun­des­re­gie­rung be­stim­men, wo es in der EU lang geht. Der ganze Schwach­sinn, den die EU, die Eu­ro­päi­sche Zen­tral­bank und die NATO ma­chen, läuft doch nicht gegen den Wil­len der Bun­des­re­gie­rung. Viel­mehr sagt sie, wir ma­chen das lie­ber am deut­schen Volk vor­bei und be­haup­ten, die Schuld liegt in Brüs­sel. Dann gibt es ein paar Affen, die glau­ben, sie würde aus­nahms­wei­se die Wahr­heit spre­chen. Das ist aber nicht die Wahr­heit. Brüs­sel ist nicht der Er­fin­der; was in Brüs­sel an Neo­li­be­ra­li­sie­rung und Mi­li­ta­ris­mus läuft, stammt aus Ber­lin.

 

SB: Du hast schmis­si­ge Stü­cke wie bei­spiels­wei­se "Faust auf Faust" mit Klaus Lage zu­sam­men kom­po­niert. Heute hast du ei­ni­ge Lie­der mit an­spruch­vol­len Tex­ten von Ber­tolt Brecht vor­ge­tra­gen. Wie sor­tierst du das Ver­hält­nis zwi­schen leich­ter Muse und sprach­lich wie in­tel­lek­tu­ell ent­wi­ckel­te­ren Kom­po­si­tio­nen, die nicht für je­der­manns Ge­schmack sind?

 

DD: Ich finde, die Fa­cet­ten des Ge­schmacks sind bei einem Menschen, der sich zu ent­fal­ten ver­sucht, so weit und ela­bo­riert wie der All­tag sel­ber, auf den sich diese Lie­der be­zie­hen. Es gibt bei mir Stim­mun­gen, wenn ich schwe­re Nie­der­la­gen zu ver­dau­en habe, wo ich nach einer be­stimm­ten Musik grei­fe. Dann gibt es wie­der­um Stim­mun­gen, in denen ich spru­delnd bin und gerne Phil Col­lins, Cat Ste­vens, Bruce Springs­teen oder Billy Joel höre. In an­de­ren Mo­men­ten freue ich mich sehr auf eine Eis­ler-Sin­fo­nie, auf ein Werk von Mikis Theo­do­ra­kis oder auf Beet­ho­vens Vio­lin­kon­zert in D-Dur, Opus 53, weil mir das die ent­spre­chen­de Kraft ver­leiht. Man soll­te in sich hin­ein­hö­ren und sich nicht mit der Fest­le­gung eines Ge­schmacks ver­rie­geln. Der Free Jazz kann einem in be­stimm­ten Si­tua­tio­nen ge­nau­so wie eine leich­te Muse Trost und Bal­sam schen­ken. Bloß kein Kampf zwi­schen E- und U-Mu­sik, leich­ter oder schwe­rer Muse, son­dern so, wie wir Men­schen in un­se­rer gan­zen Dif­fe­ren­ziert­heit sind, wol­len wir auch künst­le­risch be­dient wer­den.

 

SB: Du bist damit kon­fron­tiert, die Welt an­ders zu sehen, als du es mit 30 Jah­ren getan hast. Ist es aus dei­ner Sicht ge­sell­schaft­lich er­for­der­lich, die Po­si­tio­nen von äl­te­ren Men­schen in die­ser Ge­ne­ra­tio­nen­kon­kur­renz, die teil­wei­se auch unter dem Be­griff der Ge­ne­ra­tio­nen­ge­rech­tig­keit ex­zes­siv ge­schürt wird, kla­rer zu ma­chen und viel­leicht auch den Wert der im Alter an­wach­sen­den Fä­hig­kei­ten stär­ker nach vorne zu brin­gen?

 

DD: In mei­ner letz­ten CD "Gros­se Liebe re­loa­ded" habe ich ge­sagt, daß man keine so über­trie­be­ne Angst vor dem Alter haben soll­te. Se­xua­li­tät und Ero­tik müs­sen nicht un­be­dingt an Be­deu­tung ab­neh­men, auch wenn ihr quan­ti­ta­ti­ver Ra­di­us viel­leicht etwas ein­ge­engt ist. Das kann durch ge­stie­ge­ne Qua­li­tät er­setzt wer­den. Au­ßer­dem bin ich nicht da­ge­gen, daß man zu be­stimm­ten Arz­nei­en Zu­flucht nimmt. Man kann für alles offen wer­ben. Ich kenne Män­ner, die ihre Stim­mung durch Tes­to­ste­ron, Cremes und so wei­ter wie­der auf­hel­len. Man soll­te auch ein biß­chen Sport trei­ben. An­sons­ten ist es gut, daß die In­dia­ner äl­te­ren Men­schen län­ger zu­hö­ren als jün­ge­ren. Sie über­trei­ben den Ju­gend-Fe­tisch nicht so wie wir. Warum soll ein jun­ger Mensch mehr wis­sen als ein alter? Man soll­te nur nicht so tun, als ob die Sicht­wei­sen, die vor 30 Jah­ren ent­stan­den sind, auch wenn sie sich in­zwi­schen wei­ter­ent­wi­ckelt haben, das Non­plus­ul­tra für die Sicht­wei­sen von heute sind.

Na­tür­lich kann ich mit mei­nem Smart­pho­ne nicht so um­ge­hen wie meine Kin­der oder Enkel, aber wich­tig ist, daß man im Klas­senkampf, also im po­li­ti­schen Kampf, auf die Äl­te­ren hört. Ich wünsch­te, wir hät­ten Franz-Jo­sef De­gen­hardt noch unter uns. Ich habe ihn oft be­sucht, wir waren eng be­freun­det. Er hat mich immer an mei­nen Ge­burts­ta­gen an­ge­ru­fen und ge­sagt: Ler­ryn, ich habe es nicht ver­ges­sen. Er hat mich immer Ler­ryn ge­nannt. Ich wünsch­te, wir hät­ten noch so viele unter uns. "Denn man muß dem Wei­sen seine Weis­heit erst ent­rei­ßen", schrieb Brecht in dem Ge­dicht "Le­gen­de von der Ent­ste­hung des Bu­ches Tao Te King auf dem Weg des Lao­tse in die Emi­gra­ti­on."

Ich hoffe auch, daß Gre­gor Gysi uns mit sei­nem Rat noch lange er­hal­ten bleibt. Ich höre ihm sehr oft sehr gerne zu, ge­nau­so wie ich Sarah Wa­genk­necht und Oskar La­fon­tai­ne und an­de­ren zu­höre. Wich­tig ist nur, daß man nie­man­den aufs Al­ten­teil schiebt, denn die Äl­te­ren haben Dinge ge­se­hen, die die Jün­ge­ren nicht ge­se­hen haben. Und wenn ein Alter wirk­lich links ist, dann ist das doch gut kon­ser­viert, es sei denn, er geht von links nach rechts; so einen braucht man dann meis­tens nicht mehr. Doch wenn einer links ge­blie­ben ist, hat er viel zu sagen. Erst ein­mal mein Ap­pell an die jun­gen Frau­en: Ver­sucht es mit alten Män­nern, das kommt mir zu­gu­te. Mein zwei­ter Ap­pell geht an die jun­gen Ge­nos­sin­nen und Ge­nos­sen: Hört mehr hin, weil so schlecht ist das, was wir hier auf der Wal­deck er­lebt haben, auch nicht ge­we­sen.

 

SB: Diet­her, vie­len Dank für das Ge­spräch.

 

Erstveröffentlichung auf "Schattenblick".