"Das Bekenntnis" ist der eindrucksvollste Roman meiner letzten zehn Lesejahre. Und das, obwohl hochgepriesene Dichter, von Vonnegut bis Houellebecq, den klassischen Roman demontiert hatten. Immerhin jedoch: auch Konstantin Wecker bekennt sich zur "Grisham-Sucht". Jede Sucht giert nach Wiedergutmachung depravierender Versuchsanordnungen aus dem richtigen Leben. Die sollen dann in fingierter Eigenregie - etwa im Computerspiel oder im Gottesdienst - antipodisch nachgestellt werden. Nur halt: mit besserem Ausgang. Belletristik-Sucht hingegen bietet Rausch und Entzug in einem. Diese Evasion, dem Leserleben dialektisch abgelauscht, wird im Unwirklichen einer großen Erzählung zur unerwarteten Erwartung anderer Wirklichkeit. Wo Unentrinnbares auf den Leser zuwalzt, wirbelt aus einer Deckung ein unerwarteter Fakt hoch und kippt mit Hebelwirkung die ganze mächtige Niederwalze. Hollywoodautor Grisham bekam drum von links vorgeworfen, zuoft in Happy-Ends zu münden. Wie Beethoven. Dem hatten zeitgenössische Musikkritiker die Schlichtheit der Neunten Sinfoniemelodie vorgeworfen. Worauf dieser entwaffnend kindlich reagierte: "Was würden Sie denn machen, wenn Sie einen so schönen Einfall gehabt hätten?"

 

Teil 1 des Romans beginnt 1946: Zwei Staranwälte haben ihren Angeklagten Pete Banning längst aufgegeben, obwohl der für enormen Mut als Kriegsveteran dekoriert und hochangesehen war. Er hat nicht nur vorsätzlich in der Kleinstadt Clanton im Staat Mississippi den Methodistenprediger Dexter Bell erschossen, sondern verweigert ebenso verbohrt, sein Motiv preiszugeben, wie auch: ein (durchaus erfolgsversprechendes) Gnadengesuch zu stellen. Für Leser und Geschworene bleibt allein der elektrische Stuhl. Wie groß muss ab jetzt also die Erzählkunst werden, durch dieses Finstergebirge auch nur noch einen Sonnenstrahl zu zaubern, Pete Banning gar auferstehen zu lassen? Mit funkelnder Sprödigkeit lässt Grisham zunächst Ökonomie durch Seelen schimmern, bis sich Baumwollpreise in Launen von Erntenden wandeln. Mit so zärtlichem Sarkasmus karikiert er auch die Staatsgewalt. Beispiel: der ehrenamtliche Gerichtsdiener, der Banning vor die Jury führt, sucht mit Fistelstimme kreischend um Staatsrespekt zu heischen. Er trägt eine Behelfsuniform, die ihm seine Mutter zusammengeflickt hat und "einen gefüllten Patronengurt und will sagen: 'Ich schieße erst und rede dann!'. Allerdings konnte er nicht schießen, weil er garkeine Waffe trug."

 

Manche werfen dem Roman Überlänge vor. Aber wer eine solch wirkmächtige historische Klammer spannt, wie die Rückschau auf den Krieg um die Philippinen in Teil 2, presst Saft auch aus Nebensächlichkeiten. Grisham beherrscht meine Traurigkeit per Detail, ohne damit kommerziell zu spielen. Er setzt Effekte, ohne auf die Drüse zu drücken. Der Christ Grisham ist beileibe kein Anhänger des Marxismus. Aber er trägt mehr dazu bei, als mancher, der dies will. Und der dann mit den klebrigen Finger einer Autoren-Moral nach meiner Leserseele grapscht. Wenn Grisham vom Todesmarsch aus Bataan unter japanischen Todprüglern berichtet, erinnert das an Remarques Antiimperialismus. Shakespeare wollte in einem Tropfen die Sonne spiegeln. Grisham umfasst vier Weltkriegsjahre anhand von letztem Schleim aus einer letzten Körperöffnung.

 

Der dritte Teil entfaltet Mörder Bannings posthume Auferstehung. Wie in seinen früheren Bestsellern hebt Grisham aus Klassenjustiz, Rassismus und Innenarchitektur des großen Geldes Schicht um Schicht seine Charaktere, zirkelt sie gegeneinander ab und komponiert sie zu einer ziemlichen Verblüffung. Lange Zeit wurde in der Arbeiterbewegung vom "sozialistischen Realismus" geschwärmt. Das verträgt sich nicht ganz mit dem "Realismus wider Willen", den Marx und Engels bei Balzac als königstreuem Bourgeoisiezerleger, Rosa und Lenin beim bibeltreuen Tolstoi "als Spiegel der russischen Revolution" und Lukacs bei Thomas Mann als Psychobetrachter imperialistischer Innenarchitekturen ausgemacht hatten. Literarischer Realismus wächst, wo in die exakte Beobachtung des Naturalismus die Dialektik von Verhältnissen angelegt wird. Dazu braucht es nicht unbedingt des sozialistischen Vorsatzes. Oder der marxistischen Ausbildung eines Brecht. Wo nämlich die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten so gründlich vertuscht werden, wie im Gerichtssaal, ist ein "dialektischer Realismus" (eine Art "Marxismus wider Willen") zum (be-)greifen nahe. Und Jurist Grisham ist darin ein Meister. Wenn die Frau des Ermordeten gegen die Familie des Mörders klagt, um, heimlich verführt von einem Heiratsschwindler, an den Familienbesitz zu gelangen, ist der Dichter in seinem Element und der Kernkompetenz.

 

Kurt Vonnegut hat mit "Slaughterhouse 5" für den Massenmord der Royal Airforce in Dresden den klassischen Roman demontieren müssen. Michel Houllebecq, einst sarkastischer Vorführer halblinker Bessermenschen, aalt sich in "Serotonin" nur noch kokett suizidiär in der Demontage von Menschheitshoffnungen. Grisham legt in seinem klassischen Roman realistische Bauteile für ein human-antiimperialistisches Volksbündnis vor. Sie sind noch nicht "Grisham-süchtig"? Dann besorgen Sie sich den Stoff!