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Kategorie: Positionen

Der Stadtrat will an dem Ort, der die Erinnerung an Hunger, Zwangsarbeit und Tod während des deutschen Faschismus hinterlassen hat, den Bau eines "Deutschen Bratwurstmuseums" als Teil von mehreren Investitionsobjekten eines örtlichen Unternehmers ermöglichen. Die stellvertretende Vorstandvorsitzende der Lagerarbeitsgemeinschaft Buchenwald, Dora, Dr. Irmgard Seidel, schrieb einen offenen Brief an den Oberbürgermeister der Staft Mühlhausen:

 

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,

wenngleich der Plan der Stadt Mühlhausen, ein Bratwurstmuseum am Standort des ehemaligen KZ- Frauenaußenlagers im Stadtwald zu bauen, nach heftigen Protesten offensichtlich nicht realisiert werden kann, bringe ich meine Empörung über den verächtlichen Umgang mit dem von Deutschen verursachten Leid der hier unter schrecklichen Bedingungen eingesperrten 700 jüdischen Frauen und Mädchen zum Ausdruck.

Besonders die bagatellisierende Einordnung als „Schlaflager“, verfälscht die Funktion und den Charakter des Lagers.

Zum Konzentrationslager Buchenwald gehörten 27 Frauenaußenlager mit mehr als 27 000 weiblichen Häftlingen.

Wie die Männeraußenlager wurden sie an Standorten der deutschen Kriegsindustrie eingerichtet, wo die Häftlinge Zwangsarbeit leisten mussten.

Diese Außenlager waren ebensolche Konzentrationslager wie Buchenwald, mit Stacheldraht umzäunt und von SS-Wachposten gesichert. In ihnen galt das gleiche Regime und Strafsystem wie in Buchenwald.

Eine Besonderheit der Frauenaußenlager bestand darin, dass - da es den SS- Wachmannschaften verboten war, sich den Frauen anzunähern und das Lagerinnere zu betreten - Aufseherinnen die Gefangenen im Lager, auf dem Arbeitsweg und während der Arbeit beaufsichtigten.

 

Mühlhausen betreffend war im April 1944 auf dem Werksgelände der „Mühlenwerke AG“, einem „Verlagerungsbetrieb“ der Junkerswerke, ein Außenlager mit etwa 600 männlichen Häftlingen entstanden, in dem überwiegend sowjetische, polnische, tschechische und französische Häftlinge Flugzeugmotorteile produzieren mussten.

Das am Stadtwald befindliche Frauenaußenkommando „ Martha II“ wurde von der

„Gerätebau GmbH“ - einem Tochterunternehmen der Ruhlaer Uhrenfabrik Gebrüder Thiel - Träger des „Gaudiploms für hervorragende Leistungen“ - im September 1944 eingerichtet.

Eigentlich waren männliche Häftlinge angefordert worden, die zu dem Zeitpunkt aber nicht mehr zur Verfügung standen.

Stattdessen wurden am 3. September 1944 500 Jüdinnen – überwiegend aus Ungarn und Polen - aus dem Frauenkonzentrationslager Ravensbrück nach Mühlhausen gebracht und bereits am nächsten Tag zur Zwangsarbeit eingesetzt. Als Sklavenarbeiterinnen erhielten sie keinen Lohn. Der Betrag für den Einsatz von KZ - Häftlingen wurde von den Firmen direkt an die zentrale SS-Kasse gezahlt.

Der Buchenwalder Lagerkommandant Pister hatte bereits im Juli 1944 mit dem Direktor des Werkes über die Einrichtung eines Frauenlagers verhandelt. Nach Berlin berichtete er anschließend, dass die hygienischen Einrichtungen für Wachmannschaften, Aufseherinnen und Häftlinge einwandfrei seien und es Bade- und Saunamöglichkeiten gebe.

In Wirklichkeit befand sich das Häftlingslager in einem erbärmlichen Zustand. Die Baracken waren völlig verdreckt, die sanitären Anlagen nicht nutzbar, die Wasserleitungen

im Winter zugefroren. SS – Lagerführer Baus schrieb mehrmals nach Buchenwald, dass die Frauen die geforderten Arbeitsleistungen nicht erbringen können, da sie wegen völlig unzulänglicher Bekleidung und ständig nasser Füße an Erkältungen litten. Das führte zu täglichen Arbeitsausfällen von 30 bis 40 Gefangenen. In den Wintermonaten 1944/45 starben drei Frauen, am 23.Dezember 1944 die 21jährige Rosa Lapidus aus Bialystok, am 28.Januar 1945 die 19jährige Talca Birenbaum aus Löwenstadt und am 1.Februar 1945 die 22jährige Adel Spitzer aus Tarcal.

Der zwei Mal täglich zurückzulegende Arbeitsweg war eine Tortour. Die meisten Frauen hatten nur Sommerschuhe, Stöckelschuhe oder Holzschuhe, mit denen sie eingeliefert worden waren. Strümpfe gab es kaum. Viele hatten offene Wunden an den Füßen.

Der Arbeitseinsatz erfolgte in drei zehn- bis zwölfstündigen Schichten. Die Frauen mussten Flugzeugteile herstellen.

Im Oktober 1944 forderte Pister im Auftrag der Firma Gerätebau GmbH Mühlhausen 200 weitere Häftlinge – diesmal ausdrücklich „arische“ – bei der Inspektion der Konzentrationslager an .

Da man festgestellt hatte, dass die abgemagerten, physisch und psychisch völlig am Ende ihrer Kräfte stehenden Frauen die geforderten Leistungen nicht erbringen konnten, erlaubte die SS der Firmenleitung, im Oktober 1944 mehrere Ingenieure nach Auschwitz-Birkenau zu schicken. Während einer Selektion, bei der die Jüdinnen nackt auf dem Appellplatz stehen mussten, suchten sie sich 200 noch arbeitsfähig erscheinende aus.

Es handelte sich um junge Mädchen von 15 Jahren an und um Frauen bis 45 Jahre.

Sie trafen am 30. Oktober 1944 im Lager ein.

Um spätere Arbeitsausfälle zu vermeiden, wurden die Neuzugänge unmittelbar nach ihrem Eintreffen entsprechenden Untersuchungen unterzogen. Vier Schwangere wurden festgestellt und wenige Tage später mit fünf Schwangeren aus dem Frauenaußenlager Allendorf nach Auschwitz zur Vergasung geschickt.

Da sich Auschwitz zu dieser Zeit bereits in Auflösung befand, wurden die Frauen nicht mehr aufgenommen, sondern zum KZ Bergen-Belsen gebracht, das die Funktion des Sterbelagers Auschwitz übernommen hatte.

Am 22. Februar 1945 erhielt der Lagerführer Baus per Kurier aus Buchenwald den Befehl zur Auflösung des Lagers. Die Firmenleitung, der dieser Befehl übermittelt wurde, hielt den Zeitpunkt für verfrüht, weil sie die Produktion ohne die weiblichen Häftlinge angeblich nicht aufrechterhalten konnte. Ihr Einspruch bewirkte, dass die Frauen noch bis zum 27. Februar im Werk arbeiten mussten.

Am 3. März 1945 wurde das Frauenaußenlager am Stadtwald geräumt und die 698 Jüdinnen abtransportiert. Unter ihnen befanden sich auch 40 Kranke, von denen sechs völlig gehunfähig waren. Viele starben in Bergen Belsen, einige erlebten das Eintreffen der britischen Armee.

 

Das alles hätte man wissen können, bevor der Stadtratsbeschluss gefasst wurde.

1984 und 1985 erschienen in den „Eichsfelder Heimatheften“ mehrere Artikel von Rolf Barthel, in denen neue Forschungsergebnisse zur Lagergeschichte veröffentlicht und mit einer Vielzahl von Dokumenten belegt wurden. Manfred Thiele und Carsten Liesenberg veröffentlichten in den 1990er Jahren Arbeiten über die Geschichte der Juden von Mühlhausen und bei einem Seminar des Vereins „Christlich - Jüdische Zusammenarbeit“ berichtete 1998 eine Überlebende des Frauenaußenlagers über ihre Deportation aus Polen und die Zwangsarbeit im Mühlhäuser Lager „Gerätebau GmbH“.

Dort lernte ich Frau Orna Birnbach kennen.

Zwei Jahre später konnte ich ein ausführliches Interview mit ihr führen.

Ihre Familie gehörte zu den ersten Opfern der faschistischen deutschen Rassenpolitik in Polen. Sie wurde am 19.Juni 1925 im pommerschen Lesslau geboren und wuchs als wohlbehütetes Einzelkind in einer großen, wohlhabenden Familie auf.

Vierzehn Tage nach dem Überfall auf Polen wurde die Stadt besetzt.

Die Juden wurden gezwungen, den gelben Fleck auf dem Rücken zu tragen. SS-Leute plünderten die Wohnung der Familie. Das Pelzgeschäft des Vaters enteignete man gegen eine Papierquittung.

Die jüdischen Schulen und Gymnasien blieben nach den Sommerferien geschlossen. Von den vierundzwanzig Schülern ihrer Klasse, die alle deportiert wurden, hat Orna nie wieder etwas gehört. Sie glaubt, dass alle umgekommen sind.

Aus Angst vor einer möglichen Verschickung nach Deutschland floh die Familie nach Warschau, ohne zu wissen, dass die Hauptstadt schon völlig zerstört war. Trotzdem blieben sie dort zwei Monate versteckt, bevor sie über Krakau weiter nach Tarnow, dem Geburtsort des Vaters zogen.

Im Juni 1942 begannen auch dort große „Säuberungsaktionen“. Juden, die keinen Stempel im Ausweis hatten, wurden nach Osten geschickt, viele davon, darunter auch Kinder, wurden sofort erschossen. Orna Birnbach schätzte, dass ca. 10 000 Menschen in das Vernichtungslager Belzec transportiert wurden.

Im September gab es eine zweite Aktion, die mit einem Massaker verbunden war. Danach wurde ein Teil der arbeitsfähigen Juden, darunter Orna und ihre Mutter in das Judenlager Plaszow geschickt. Den Vater brachte die SS in das KZ Mauthausen, wo er starb.

Im Interview verwies sie mehrfach darauf, dass der Film „Schindlers Liste“ das Geschehen in Plaszow sehr realistisch wiedergibt.

Nach drei Monaten wurde Plaszow liquidiert und 280 Frauen in Viehwaggons nach Auschwitz – Birkenau überführt. Bei der Selektion wurde die Mutter von ihr getrennt und musste, als Orna für arbeitsfähig befunden und nach Mühlhausen deportiert wurde, im Lager zurückbleiben. Erst nach ihrer Befreiung in Bergen - Belsen erfuhr sie, dass auch die Mutter überlebt hatte und am 27.Januar 1945 von sowjetischen Soldaten in Auschwitz befreit worden war.

Orna Birnbach engagierte sich jahrelang vor Schülern und Studenten dafür, dass ihre Geschichte und die ihrer Kameradinnen nicht vergessen wird. Sie trat auch vor Mühlhausener Gymnasiasten auf.

Nach einer Besichtigung des ehemaligen Häftlingslagers am Stadtwald äußerte sie ihr Unverständnis darüber, dass es dort weder eine Gedenktafel noch einen Hinweis auf die Geschichte des Lagers gibt.

 

Ich bitte Sie, diesen Offenen Brief den Mitgliedern des Stadtrates, dem möglichen Investor und dem Präsidium des Bratwurstvereins zukommen zu lassen, weil „von allem nichts gewusst“ zu haben, in unserer Zeit nicht mehr möglich ist.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Irmgard Seidel

Lagerarbeitsgemeinschaft Buchenwald – Dora

 

11. Februar 2019