Vor dem Hamburger Parteitag zur Europawahl: Radikale Kritik an herrschenden Institutionen ist nötig. Ein Gespräch mit Diether Dehm

Interview: Markus Bernhardt

In der Linken gibt es vor dem Hamburger Parteitag zur Europawahl eine heftige Diskussion um die politische Bewertung der Europäischen Union. Mit welchem Gefühl gehen Sie in den Parteitag?

Linke Wirtschaftswissenschaftler haben große Krisen immer zu früh gesehen, kapitalorientierte Analysten nie rechtzeitig. Dieses Mal ist sich die Mehrheit einig, daß der Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB), Mario Draghi, mit der Gelddruckerei nur Zeit gekauft hat. Der innere Krisenmechanismus blieb aber unangetastet.

Die Linke muß die Demokratie in der Krise verteidigen und eigenständig gegen diese EU wirken, besonders gegen ihr gesetzliches Verbot von Kapitalverkehrskontrollen und ihre brutalen Freiheiten für das Kapital. Wir fordern doch alle eine vollkommen neue EU und sollten so an einem konsensualen Gelingen, einem wirkmächtigen Wahlprogramm zusammenarbeiten.

 

Die ostdeutschen Landesvorsitzenden haben angeblich mit Bundestagsfraktionschef Gregor Gysi Absprachen getroffen, daß Bewerber um einen Listenplatz für die EU-Wahl, die dem linken Parteiflügel zugerechnet werden, nicht gewählt werden sollen. Was ist dran an diesem Gerücht?

An eine solche Absprache glaube ich nicht. Solches Agieren würde Gysis Bemühen nach dem Göttinger Parteitag nicht entsprechen, die Partei zusammenzuhalten und gegenüber den anderen Bundestagsparteien zu profilieren. Ich denke etwa an sein wichtiges Plädoyer im Bundestag für nationalstaatliche Souveränität gegenüber den Lauschangriffen der NSA und dem Versagen der Bundesregierung.

 

ddehm-jahresauftakt-EL-2014 

Gesetzt den Fall, es gäbe doch eine solche Absprache – glauben Sie,  daß dieses »Reformerlager« auf Resonanz stößt?

Kann man diejenigen »Reformer« nennen, die eine grundlegende Änderung  der EU einem illusorischen Konsens mit den anderen Parteien opfern wollen? Die Delegierten werden sich von den Konzernmedien keine sinnvolle EU-Kritik als »europafeindlich« vorgaukeln lassen.

 

Im Programmentwurf zur Europawahl heißt es zur Zeit noch, daß die EU eine »neoliberale, militaristische und weithin undemokratische Macht« ist. Gysi hat daran Anstoß genommen – was gibt es daran auszusetzen?

Er entspricht der scharfen EU-Kritik von Gregor Gysi und Oskar Lafontaine in ihrem »Memorandum für eine (…) soziale und friedenssichernde EU« vom Januar 2007, als gerade die Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden den Verfassungsvertragdurchfallen lassen hatten. Neoliberale und militaristische Inhalte wurden dann zum »Vertrag von Lissabon«.

Wichtiger als das, was am Ende zur Abstimmung steht, war und ist die von uns angestoßene Debatte in der Partei. Wir müssen nun gemeinsam die Weichen stellen, um den Wahlkampfschwerpunkt gegen Bankenmacht und das Freihandelsabkommen EU-USA (TTIP)zu setzen. Das ist ein Angriff auf soziale und ökologische Standards in EU-Mitgliedsstaaten, aber auch in den USA.

 

Ihre Partei hat bei der Bundestagswahl etwa 360000 Wähler an die«Alternative für Deutschland« (AfD) verloren. Hat die Parteiführung daraus eine Konsequenz gezoen?

Gegen deren rechtsdemagogische Kurzformeln, wie »zurück zur DM« brauchen wir linke und radikaldemokratische Zuspitzung: Zurückdrängung der Bankenmacht und nein zum TTIP. Außerdem müssen wir verdeutlichen, daß zwischen den imperialistischen Attitüden von Bundespräsident Joachim Gauck auf der Münchener Sicherheitskonferenz und dem Aufrüstungszwang der EU und den Battlegroups bedrohliche Verbindungen bestehen. Wenn die Linke nicht wieder in einer Wirtschaftskrise versagen und den Rechten Potentiale der Unzufriedenheit überlassen will, muß sie radikale Kritik an herrschenden Institutionen populär machen, damit sie der Demagogie und dem großen Geld von Hans Olaf Henkel & Co. Wirkmacht entgegensetzt.

 

Und dennoch gilt es als Tabu, einen Austritt Deutschlands aus der EU zu fordern?

Tabus sind selten richtig. Die regionale Integration von Staaten in einem Staatenverbund ist durchaus sinnvoll – in Europa, in Lateinamerika und auch in Asien. Aber sie muß friedlich, demokratisch, sozial und ökologisch verfaßt sein. Das gilt für die heutige EU jedenfalls weithin nicht. Die Linke ist gegenwärtig die einzige Kraft, die das vertritt.

 

(erschienen in junge Welt vom 8. Februar)