Besprechung über ein Buch hinaus

Bernd Riexingers "Neue Klassenpolitik" erschien 2018 im VSA-Verlag. Doch der Untertitel "Solidarität der Vielen statt Herrschaft der Wenigen" wird dem Buch gerechter. Wer Beispiele in der Vergangenheit des erfolgreichen Gewerkschaftsvorsitzenden - nicht nur in dessen Stuttgarter Raum - erfahren will, hat die 14,80 Euro gut angelegt. Die Summe seiner Berichte aus gewerkschaftlichen Einzelkämpfen, soziologische Tabellen und empirisch begründete Einschätzungen machen das Buch durchaus lesenswert.

 

Ein besonders lehrreiches Kapitel beginnt auf Seite 31 über die "Rationalisierung der Büros - Kämpfe um (verkürzte Arbeits-)Zeit". Die Erinnerung an "Rheinhausen" in den Achtzigern (S. 25) ist von ebenfalls aktueller Bedeutung. Vielleicht könnte eine vierte Auflage noch um die großartige Solidarität der örtlichen Duisburger Läden und auch der künstlerischen Unternehmer "Tote Hosen", Grönemeyer, Meinecke, Lage, Wader u. a. mit der Belegschaft noch nachgetragen werden. Oder auch - woran ich mich als Solikonzert-Mitveranstalter besonders erinnere - um die damals verstörende Forderung des Betriebsratsvorsitzenden Theo Stegmann vom "solidarischen Schrumpfen" der Stahlproduktion von T-Profilen bei Thyssen-Krupp. Denn sozialistische Kulturarbeit finden im Buch leider überhaupt nicht statt. Auch nicht, wo Bernd Riexinger auf Seite 156 Richtiges über Gramscis Hegemoniekonzept schreibt. Bei Gramsci, Sabine Kebir, Dieter Süverkrüp, W.F. Haug, Kaspar Maase usw. können auch linke Parteivertreter stöbern, warum sich Klassenbewusstsein und dessen "Stützpunkte" ohne kulturelle Hegemoniearbeit nicht entfalten können. Besonders, solange Kapitalüberwindung im "Diesseits" auf so wenig staatliche Referenzmodelle für deren übernächste Ziele verweisen kann.

 

Aber vor allem die zwei Worte "Neue Klassenpolitik" fordern grundsätzliche Fragen heraus: Was ist wirklich "neu" an dieser Politik? Heißt "Klassenpolitik": da macht eine Klasse selbst Politik? Oder macht da irgendwer "Politik" mit dieser "Klasse"? Oder für sie? Ist das Proletariat also aktives Subjekt oder nur Rezipient? Handelt es sich um die Klasse an sich? Oder – was ein qualitativer Unterschied zum jeweiligen Klassenbewusstsein ausmacht – um die Klasse "an und für sich"? Also um ein Abstraktum, was sich bislang ansatzweise und allenfalls in revolutionären Kadern konkretisierte? Und wäre ein Parteivorstand aktuell solcherlei Avantgarde?

 

Dies sind sind ebensowenig rein abstrakte Fragen wie: Wer malt mit proletarischem Überblick die (Arbeits-)Welt von heute für morgen? Mit welcher radikalen Arbeitszeitverkürzung und gleichzeitiger Entschleunigung innerhalb der Werkstückfertigungen in den Staaten des hochkumulierten Kapitals? Also unter Nutzung des technischen Fortschritts für den Abbau von Stress und anderen Krankheiten? Wer mobilisiert mit welchen aktualisierbaren Hauptkampfforderungen eine Arbeiterklasse mit der Gesamtverfasstheit dieser Arbeiterklasse im Blick? Wenn gleichzeitig deutsche Konzern-Exportüberschüsse einer Schicht von Industriearbeitern zwar auch zugute kommen, deren Gewerkschaftsführer aristokratisch zu betören vermögen, aber den meisten ArbeitskraftverkäuferInnen ansonsten an Lebenserwartungen weggenommen werden?

 

Bernd Riexinger blendet zugunsten der "Proletarier aller Länder" die raumzeitlich bestimmte Konkretheit des "Manifests" aus: "Obgleich nicht dem Inhalt, ist der Form nach der Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie zunächst ein nationaler. Das Proletariat eines jeden Landes muss natürlich zuerst mit seiner eigenen Bourgeoisie fertig werden." (MEW, Bd. 4, S. 473). Das heißt, dass sich Klasse und ihr Bewusstsein an den jeweils nationalen Bedingungen schulen, an Erfolgen, Niederlagen, Nationalstaat, Kulturen, Gesetzen, Arbeitsalltagen usw. An deren konkretem Klassenfeind, "der eigenen Bourgeoisie", wächst Klassenbewusstsein zum allgemeinen, "dem Inhalt nach" internationalistischen heran. Diese Dialektik aus Form und Inhalt liegt aber ebenso außerhalb des Buchs, wie die aus Zuspitzung und Bündnisbreite.

 

Tarifauseinandersetzungen, wie im Stuttgarter Einzelhandel 2008 (S. 97) werden von Riexinger zwar sehr anschaulich, die jüngeren Kämpfe in den letzten zehn Jahren bei UPS, Friseuren, Gaststätten, Erzieherinnen (S. 38, 45, 105) nicht nur mit den mangelnden Tarifbindungen (S.133) und der "zu geringen Politisierung der Kämpfe" (S.108) aufgezählt. Aber was das heißt für Strategie und Gegenkulturbildung einer "neuer Klassenpolitik", bleibt allenfalls appellativ.

 

Zwar findet Riexinger zum Thema "Arbeitstempo" durchaus zutreffende Bilder (Seite 43: "Sie fühlen sich wie der Hamster im Rad, aus dem es kein Entrinnen gibt, egal wie schnell man läuft.") Aber der Gegenentwurf wird unter den konkreten Bedingungen Deutschlands (und letztendlich, mit proletarischer Welt- und Weitsicht, auch für Südeuropa, China, Gambia, México etc.) weder konkret als "neue, verbindende" Klassenperspektive erfasst. Noch abstrahierend, wo es um die ordnende Theoriebegrifflichkeit der empirischen Fülle geht. Da überfordert der Titel offensichtlich Leserschaft wie Autor. Wobei auch einige Marxisten dem Missverständnis unterliegen, ein revolutionäres Klassenbewusstsein habe sich gänzlich von den konkreten (etwa nationalen) empirischen Konstituenten emanzipiert, darüber erhoben und abstrahiert, sei also nur noch das Bewusstsein einer internationalistisch verfassten Klasse. Dies ist ein Ökonomismus, den zumindest die materialistische Psychologie nicht bestätigen kann.

 

Vielleicht sollte hier auch mit einem anderen Missverständnis aufgeräumt werden. Lenin hat nicht nur mit den Begriffen des "Imperialismus" und des "staatsmonopolistischen Kapitalismus" die neue ökonomische Formationsspezifik des Oligopols qualitativ (weiter-)entwickelt, sondern damit auch die subjektive, die Bewusstseins-Lage der Arbeiterklasse und damit die empirische Grundlage um die nicht-monopolistischen Zwischenschichten und Klassen erweitert; so um die (russischen) Bauern, die für Marx zu einem Teil noch amorphe Masse waren "wie etwa ein Sack von Kartoffeln" (18. Brumaire, MEW, Bd. 8, S.198). Uns obliegt es, dies auf Kleinstunternehmen, Handwerker, outgesourcte (Schein-)Selbstständige, Kulturschaffende etc. eben auch auf andere nichtmonopolistische Schichten auszuweiten. Als Unidad Popular, so wie Lenin in der NÖP (und Ulbricht in der NÖSPL), um sich auf ökonomische, aber vor allem auch auf kulturelle Rückständigkeiten einzulassen, nationalistische Enge und Folklore praktisch mit Anmut und Mühe geduldig zu überwinden. Hier "umerzieherisch" von oben nur das Lerntempo forcierend zu überfordern, löst rückständige Anfälligkeiten im werktätigen Alltagsbewusstsein ebensowenig, wie Motivationsbremsen für soziale Kämpfe. Wer z. B. mit seinem Diesel als Handwerker nicht mehr zu seinen Kunden darf, hat wenig Lust auf Linke, die grade jetzt das Auto ganz abschaffen möchten. Wer am Ende des Monats nicht mehr weiter weiß, wird nicht motivierter, wenn die Linke auf das ökologische Ende der Welt weist.

 

Bis zur letzten Europawahl hatte Bernd Riexinger mehrfach behauptet, die AfD habe ihren Zenit bereits überschritten, sei im Sinkflug. Nun will er die AfD nicht mehr so "auf die leichte Schulter nehmen" (S.123) weil "überdurchschnittlich viele Gewerkschaftsmitglieder anfällig" seien. Für ihn bleibt dies ein Webfehler in Arbeiterköpfen, die "soziale Frage mit Höcke nicht mehr zwischen unten und oben, sondern zwischen und außen" zu sehn. Gleichwohl sei "noch keine Partei so stark in den Gewerkschaften vertreten, wie die Linke" (S.141). Diesen Widerspruch nach vorne nicht aufzulösen, warf ihm Christian Baron im "Freitag" ausführlich vor und warum "die von ihm geführte Linkspartei bei 9% dümpelt, während die sozialpolitisch nicht von der FDP zu unterscheidende AfD von Erfolg zu Erfolg stolpert." (https://www.freitag.de/autoren/cbaron/jenseits-vom-schwelen)

 

Für Riexinger scheint es auch weder die Oktoberrevolution, noch den Monopolbegriff von Lenin und Hilferding zu geben, sondern mit Michael Vester - und wieder nur additiv: "... fünf Großgruppen in einer Gesamtlandkarte der deutschen Milieus. Die Gruppe der kapitalistischen Klasse ... bei den großen selbständigen Unternehmen und hohen Managern und bei den kleineren Unternehmen und mittleren Managern ..." (S.75) Dagegen setzt er ohne analysierende Kohäsion, etwa in Bezug auf national erkämpfte Sozialstaatlichkeit, nur deskriptiv einen "inklusiven Klassenbegriff, der über die Milieuzugehörigkeit hinausgeht" (S.76).

 

Wo die marxistische Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus aus den nicht-monopolistischen Zwischenschichten logisch streng eine antimonopolistisch-antiimperialistische Bündniskonzeption ableitet, sieht der Autor nur irgendetwas "Verbindendes". Zu den nichtmonopolistischen Potenzialen der Klein- und Kleinstunternehmen (8o% der EU-Unternehmen!), HandwerkerInnen und Landwirten z. B. hat er dabei ein eigentümlich unentschlossenes Verhältnis.

 

Keine Idee, die die Massen ergreift, kommt aber als beschriebene Papierschwalbe von oben geflogen und wird von der staunenden Welt heruntergeangelt. Die von den nichtimperialistischen Klassen und Schichten verschieden erlittenen und gebildeten Einsichten müssen zu wenigen, aber belastbaren Kampfparolen gebündelt werden. Als Lenin im April 1917 vor dem Petersburger Bahnhof vom Panzerwagen aus sein Konzept vertrat, bestand dies aus genau drei Hauptzielen: "Frieden, Brot und Land für die kleinen Bauern"! Alles sicher irgendwie auch verbindende Klassenpolitik, um andere Klassen und Schichten, vor allem die riesige Bauernschaft um das winzige russische Proletariat für Bündnisperspektiven zu erschließen. Und sicher klangen diese Forderungen alltäglicher, weniger radikal als die der Anarchisten. Aber durch die praktischen Kämpfe seit 1905 bewährt und geläutert war diese "Sozialdemokratische Partei (Bolschewiki)" glaubwürdig und kompetent geworden, damit die Bewegungen zu vertiefen und zu verstärken.

 

Lenin war das, was man "einen glühenden Internationalisten" nennt und gegen Rassismus war im Russland von 1917 nicht weniger zu tun, als im heutigen Deutschland. Auf dem Panzerwagen am 26. April begrenzte er sich auf anderes. Nicht, weil er darauf strategisch verzichten wollte. Sondern weil er und die Bolschewiki mit dem Kampf um Brot und Frieden den Kampf um das, was noch nicht in aller Köpfe war, verbreite(r)n wollten!

 

"Neue" beziehungsweise "verbindende Klassenpolitik" kann zuspitzen. Kann aber auch alle ihre sämtlichen Forderungen, die auf irgendeinem Parteitag irgendeine Mehrheit fanden, als Spruchbänder auf eine kilometerlange Wäscheleine hängen: Gendern der Sprache, Kampf um Löhne, mehr Migration, Abbau nationaler Grenzanlagen und nationalstaatlich erkämpfte Standards und ... und ... und ... und ... nebst dem Kampf gegen "Naturzerstörung, Rassismus, Sexismus, Reichtumsakkumulation bei wenigen, Belastung der vielen durch körperliche Arbeit ... um … die verschiedenen Interesse, Bedürfnisse und Träume zu verbinden“ (Riexinger, S. 156). So klingt "neue" Klassenpolitik irgendwie "graswurzelig". Eine antimonopolistische Strategie hingegen ist bewegende Zuspitzung und Breite gegen den Hauptfeind, Sammlung aller, mit dem Monopolkapital in mehr oder weniger scharfem Widerspruch geratenen Schichten und Gruppen um das Proletariat als Hegemon und Hauptantagon der Verhältnisse.

Diether Dehm