Traditionspflege mit Zukunftsaussichten
Lieder am Lagerfeuer, im Seminar und auf der Bühne. Zum sechsten Mal seit den 1960er Jahren, vom 19. bis 21. Juni, fand der Linke Liedersommer auf der Burg Waldeck statt. Das Festival wurde vom Deutschen Freidenker-Verband ausgerichtet. Bei dieser Gelegenheit sprach der „Schattenblick“ mit Diether Dehm, dessen Kulturarbeit, künstlerische Arbeit und Erinnerung bis zum ersten Burg Waldeck Festival zurückreichen.
Schattenblick (SB): Diether, du hast die Burg-Waldeck-Festivals der 1960er Jahre selbst als Liedermacher kennengelernt. Wie hast du damals den Konflikt zwischen der bloßen Aufführung von Liedern und der politischen Auseinandersetzung mit ihren Inhalten erlebt?
Diether Dehm (DD): Die Waldeck war in der Adenauer-Zeit geboren, einem extremen Antikommunismus antipodisch geschuldet und wurde empfunden als ein Aufatmen des freien Geistes hier an diesem zurückgezogenen Ort gegen eine Kultur, in der 66/67 sogar DemonstrantInnen, die gegen den Vietnamkrieg protestierten, ihre Schilder von Bauarbeitern blutig über den Kopf geschlagen wurden. Dieses schlimme, restaurative Adenauer-Denken reichte selbst in die Gewerkschaften und in die Arbeiterschaft tief hinein.
Deswegen hat sich hier, wenn man so möchte, zunächst eine multiplikatorische Elite des freien Geistes und der Freidenkerei etabliert, und deswegen ist es auch gut, daß die Freidenker in diesem Jahr das kleine Nachfolgefestival veranstalten. Einige 68/69er glaubten damals, die Zeit des Singens sei vorbei. Sie interpretierten eine Zeile von Degenhardt - Zwischentöne sind nur Krampf im Klassenkampf - etwas über und schlußfolgerten daraus, jetzt müsse statt zu singen und Balsam zu versprühen auf der Straße gekämpft werden. Über die strategisch-taktische Diskussion sollte der Gesang zurückgestellt werden. Es wird mir in irgendeiner Biographie eines großen Künstlers unterstellt, ich sei einer von denen gewesen, die den Ruf "stellt die Gitarren in die Ecke" mitgetragen hätten. Das ist falsch. Ich habe gestern abend lange mit Dieter Klemm von Floh de Cologne gesprochen, und er sagte mir, daß Gerd Wollschon von den Flöhen dieser Gruppe zugehört habe.
Übrigens war Henryk M. Broder einer der Oberstörenfriede, der von ganz links außen andere Meinungen nicht zu Wort kommen ließ, was bis heute seine Art geblieben ist, wenn auch mit anderen Vorzeichen. Heute ist er mit den Herrschenden als Kettenhund verbündet, damals war er der Kläffer und Terrier von ganz linksaußen. Ich glaube, daß die Parole falsch war, weil zum Beispiel jemand wie Hanns Dieter Hüsch, der im besonderen ein Leidtragender dieses Vorgangs war, oder auch Reinhard Mey mit ihren Liedern mehr zum Humanismus und zur Zivilisierung der Gesellschaft beigetragen haben als viele, die meinten, sich schreihälsig selbst nach vorne spielen zu müssen, um in irgendeine Kamera hineinzukommen.
SB: Du warst 18 Jahre alt, als du 1968 bei den Internationalen Essener Sonntagen einen Preis für das Stück "Karriere" bekommen hast. Wie kam es dazu, daß du frühzeitig kritische Lieder verfaßt hast?
DD: Die Motivation dazu war Teil meiner persönlichen Familiengeschichte. Irgendwann als sehr junger Mensch stand ich in Buchenwald und habe auch Orte gesehen, die relativ brutal mit meiner Familiengeschichte in Verbindung standen. Damals habe ich die Entscheidung getroffen, gegen die zu kämpfen, die Hitler an die Macht finanziert hatten wie zum Beispiel die Deutsche Bank, Krupp, Thyssen oder Stinnes. Daher waren mir schon früh andere Fragen nicht mehr so wichtig; am wichtigsten war, Leuten die Mittel, mit denen sie Kriege unterstützt und Hitler finanziert hatten, aus der Hand zu schlagen.
SB: Viele Künstler und Musiker leben heute im Prekariat. Der Berliner Maler Thomas J. Richter hat einmal in einem Interview geschildert, wie viel besser die Umstände für Künstler in der DDR gewesen waren. Gibt es in der Partei Die Linke Bestrebungen, dem Bereich der Kultur wieder mehr Raum zu verschaffen, damit Menschen unbeeinträchtigt von Vermarktungszwängen künstlerisch tätig sein können?
DD: Sowohl die alte Bundesrepublik, aber vor allem die DDR haben viel mehr als das heutige vereinigte EU-Führerdeutschland für das Gedeihen der Künste getan. Eins muß man allerdings auch sagen: Wer sich zum Beispiel wie Dieter Süverkrüp oder Franz-Josef Degenhardt auf die Seite der Antiimperialisten schlug, erhielt in der Regel keine Förderung. So weit ist die Bundesrepublik wie übrigens auch die DDR nicht gegangen, wie man an der Ausbürgerung von Wolf Biermann erkennen konnte. Die Toleranz hatte ihre Grenzen, und ich erwarte mit Ausnahme des Faschismus, daß man wirklich eine breite Toleranz zugrunde legt. Mein Anspruch endet nicht an der Rückbesinnung auf die alte Bundesrepublik und auch nicht bei der eigentlich kultursichernderen DDR. Ich möchte wirkliche Toleranz, daß Künstler auch dazu ermutigt werden, gegen den Strich zu singen, zu schreiben und zu malen.
Wir hatten allein in Baden-Württemberg in jeder größeren Kleinstadt ein Kulturzentrum, wo wir als Liedermacher auftreten konnten. Die Grönemeyers, Lages und Lindenbergs konnten allein am Klavier oder an der Gitarre dem Publikum an den Augen ablesen, wo die Tendenz hingeht. In diesen Laboratorien wurden die Grundlagen für später erfolgreiche Rockbands und große Apparate gelegt. Sie hatten nicht immer große Apparate, vielleicht mit Ausnahme von Lindenberg. Aber andere wie Katja Epstein, Reinhard Mey und Hannes Wader, die später größere Umsätze machten, haben erst einmal in diesen kleinen Kunstkellern, Literaturzirkeln und Kammerspieltheatern ihr Publikum und sich selbst am Publikum erprobt, so auch ihre Pointen wie Jürgen von der Lippe und verschiedene andere Leute, die später als Comedy-Stars groß rausgekommen sind. Das alles ist nahezu weggebrochen, vielleicht sind noch 20 Prozent davon übrig.
Das ist aber auch ein Verlust für die große kommerzielle Kultur. Ich will damit sagen: Wer die kleine Kultur schädigt, schädigt auch die große Kommerzkultur, wer in die kleine Kultur zu wenig Geld investiert, wird später viel mehr Geld in der großen Kultur und viel mehr Talent-Scouts und Marketing-Research brauchen, um herauszukriegen, was das Publikum denkt. Wenn der Künstler am kleinen und mittleren Publikum kapiert, wie ein Publikum reagiert, dann ist das geldsparend. Schon aus rein finanziellen Gründen ist es falsch, an der Kulturstelle zu sparen oder Toleranz und Freiheit einzuengen, weil Künstler, die unter Zwang arbeiten, in der Regel schlechte Arbeit leisten oder wie Martin Luther sagte: Aus einem verzagten Arsch kommt kein fröhlicher Furz. Daß wir neben Mitternachtsspitzen und anderen RTL-Produktionen plötzlich Sendungen wie die Anstalt oder die Heute-Show haben, was keiner für möglich gehalten hat und wo auch ein paar linke Sachen vorkommen, ist ein Pendelrückschlag auf eine Zeit, in der es nur noch harmlose, dümmlich grinsende und laue Zoten reißende Comedians gab, die ein Ergebnis der Einschüchterungsphase sind, bloß keine Politik anzufassen, weil man sonst keinen Sendeplatz kriegt.
SB: Du warst an der selbstorganisierten AG Song beteiligt, die aber als Projekt 1994 wieder eingegangen ist. Warum hat sich dieser Zusammenschluß von Liedermachern und Liedermacherinnen nicht bewährt, und hältst du solche Formen von basisdemokratischer Selbstorganisation heute noch für zukunftsträchtig?
DD: AG Song ist in Nürnberg beim Bardentreffen entstanden. Dort hat der eigentlich fortschrittliche sozialdemokratische Kulturdezernent Hermann Glaser gesagt, wir stellen Bühnen in die Stadt, bitten Frau Schickedanz von Quelle und andere ein bißchen zu sponsern und erstatten den Künstlern die Hälfte der Fahrtkosten. Im Gegenzug dürfen sie auf den Bühnen frei agieren. Daraufhin begann ein Hauen und Stechen unter den Künstlern, wer endlich auftreten darf. Das betraf natürlich diejenigen, die ansonsten nicht auftreten konnten, weil sie entweder keiner gewollt hat - es gibt auch schlechte Liedermacher - oder weil sie einfach zu jung waren, um schon erprobt zu sein.
Dann kamen Klaus Lage und ich und sagten, Leute, wir müssen uns organisieren, das ist eine Riesenausbeutung. Denn es gibt auch Künstler, die teilweise oder größtenteils davon leben, und denen kann man nicht einfach eine Bühne hinstellen, das halbe Fahrgeld erstatten, aber sonst kein Honorar geben. Dahinter stecken riesige städtische Gelder. Frau Schickedanz und andere machen Programmhefte, in denen sie kostenlos ihre Inserate zigtausendfach unter die Leute bringen. So haben wir mit einem Streik der Liedermacher durchgesetzt, daß die Fahrtkosten ganz erstattet werden und es ein Mindesthonorar von 250 D-Mark gibt. Das war der erste Streik der Liedermacher überhaupt in der deutschen Geschichte, den Klaus Lage und ich - so lernten wir uns übrigens auch kennen - in Nürnberg organisiert haben. Dann wurde diese Idee hier auf der Waldeck unter dem Geschäftsführer Stephan Rögner und anderen weitergeführt.
Das Problem war, daß die prominenten Künstler andere Arbeitsprobleme hatten als die weniger prominenten. Das heißt, die weniger Prominenten wollten, koste es, was es wolle, auf die Bühne, nutzten auch ihre Ellenbogen dazu hinten und vor der Kulisse, während die echten Promis auf der Bühne schauen müssen, daß sie nicht um ihre Copyrights gebracht werden, wie das jetzt zum Beispiel mit dem Freihandelsabkommen wieder aktuell wird. Deswegen drifteten die Interessen auseinander. Am Ende war die AG Song hier auf der Waldeck nur noch von B- und C-Prominenten wie mir besetzt. Dann gab es auch solche, die wie ich Lieder für andere erfolgreichere Stars geschrieben und damit ihr Geld verdient haben. Sie waren nicht so darauf angewiesen, auf die Bühne zu gehen.
Klar gehe ich gerne auf die Bühne, weil jeder, der auf die Bühne geht, es nötig hat, aber ich war trotzdem nicht so unter Druck, andere schon, und für sie ging es darum, wie komme ich auf die Bühne. Auch wenn viele vordergründig etwas anderes gesagt haben, ging es um dieses Motiv. Für die Prominenteren ging es dagegen um Probleme wie Zensur im Fernsehen, Copyrights und so weiter. Deswegen haben wir parallel zu AG Song "Künstler für den Frieden" gegründet, um gegen Atomraketen, aber teilweise auch gegen Atomkraftwerke zu protestieren. Auf diese Weise haben wir die Prominenten und die weniger Prominenten mit ihren unterschiedlichen Arbeitsfragen unter einen Hut gebracht. Das war nachhaltiger und hat länger gewirkt als AG Song, die am Ende an den kleinen Egomanien der Kulturschaffenden eingegangen ist.
SB: Das Thema TTIP wird im Bereich der Kultur nicht besonders stark thematisiert, auch wenn der Deutsche Kulturrat vor kurzem einen Aktionstag dazu abgehalten hat. Welche Gefahren siehst du durch das TTIP auf Kunstschaffende zukommen?
DD: Jede Liberalisierung im ökonomischen Bereich ist verdächtig, nichts anderes zu sein als das Recht des Stärkeren. Von Willy Brandt stammt der Satz: "Wir wollen das Recht des Stärkeren durch die Stärke des Rechts ersetzen". Liberalisierung heißt in diesem Sinne, dieses Recht wieder abzuschaffen und durch Rechtlosigkeit zu ersetzen. Nicht zufällig wird im Vertrag der Europäischen Union allen voran eine ungehemmte Wettbewerbsfähigkeit gefordert. Ins Bild gesetzt heißt das, ein Rehkitz und einen Tiger in einen Käfig zu sperren und dann die Scheidewand zwischen beiden Teilen des Käfigs wegzuziehen. Ich habe für Joe Cocker, Christopher Cross, Curtis Stigers und andere geschrieben, aber seit 20 Jahren nicht einen Dollar aus den USA gesehen. Das ist die Liberalisierung dort. Von der Gema kriege ich wenigstens meine Kohle. Deswegen bin ich auch ein Anhänger der Gema trotz aller Kritik, daß sie kleine Vereine zu sehr schröpft. Aber im Prinzip ist sie eine gute Einrichtung. Wenn ich richtig im Bilde bin, kämpft die Gema mittlerweile gegen das TTIP und bildet eine starke Front dagegen. Ich finde es richtig und wichtig, daß alle, die Urheberrecht und Leistungsverwertungsrecht zu ihrer lebensökonomischen Basis haben, sich gegen diese Art des Wirtschafts- und Kulturimperialismus wehren.
SB: Du hattest mit Mikis Theodorakis im Rahmen des Europäischen Kulturnetzwerkes Kontakt. Er wird jetzt 90 Jahre alt. Ist er noch die Stimme des griechischen Widerstandes oder hat man ihn als Künstler schon aufs Altenteil geschoben?
DD: Wenn man 90 Jahre alt ist und seit 1967, als er von den griechischen Faschisten ins KZ gebracht wurde, ein gelähmtes Bein hat, dann ist man beides, teilweise auf dem Altenteil und teilweise die Stimme des Widerstandes. Es gibt auch eine Dialektik, die vom Alter herkommt. Man kann nicht mehr einen harten Punch schlagen, weiß aber besser als andere, wie der Punch geht. Deswegen ist Theodorakis aktuell natürlich nicht mehr der Komponist für die griechische Widerstandsbewegung.
Als ich vor zwei Jahren in Athen mit Alexis Tsipras meinen Geburtstag gefeiert hatte, besuchten wir mit dem damaligen griechischen Staatspräsidenten Karolis Papoulias und Gregor Gysi Mikis Theodorakis. Obwohl er liegen und das Bein hochlegen mußte, hatten wir den Eindruck, daß der Geist des Antifaschismus ungebrochen von der Zeit bis 1945 und dann nochmals von 1967 bis heute im Kern seines kulturellen Schaffens steht. Beide Male war der Faschismus mit Deutschland verbandelt gewesen, und das gilt bis heute, wo deutsche Finanzminister ihren Teil dazu beitragen, daß eine Ökonomie gestärkt wird, die Zehntausende von Kindern jeden Tag in der Welt frißt. Diese Ökonomie hat sich auch der Internationale Währungsfonds auf seine Fahnen geschrieben. Was Theodorakis mit der großartigen Sirtaki-Musik in Alexis Sorbas, mit dem Canto generale und den Oden an den griechischen Antifaschismus geschrieben hat, ist der Geist, aus dem sich auch große Teile der gegen die EU und die deutsche Vorherrschaft des EU-Imperialismus gerichteten Widerstandskräfte nähren.
SB: Du hattest dich für die Stärkung des Imperialismus-Begriffes ausgesprochen. In diesem Sinne könnte man auch vom deutschen Imperialismus sprechen.
DD: Wir sind nicht die Opfer, wir sind die Täter. Darin unterscheide ich mich von einem Teil der Montagsmahnwachen.
SB: Demgegenüber gibt es aber auch die Ansicht, daß wir hier in einem besetzten Land leben würden. Was hältst du davon?
DD: Wir leben teilweise in einem besetzten Land, aber das wird von den Herrschenden und neoliberalen Eliten hier gerne gesehen. Es war immer gerne gesehen, daß zum Beispiel in der Eifel Atomwaffen stationiert sind und die NATO von hier aus ihre verbrecherischen Kriegsfeldzüge geplant hat. Ich habe nie erlebt, ob das nun Schmidt, Kohl, Schröder oder Merkel waren, daß irgend jemand ernsthaft gesagt hat: "Wir sind besetzt, das ist ja unerhört". Die Herrschenden hier spielen doch gerne über Brüssel oder die NATO am Volk vorbei. Sie haben das doch in der Hand. Eine deutsche Kanzlerin und eine deutsche Bundesregierung bestimmen, wo es in der EU lang geht. Der ganze Schwachsinn, den die EU, die Europäische Zentralbank und die NATO machen, läuft doch nicht gegen den Willen der Bundesregierung. Vielmehr sagt sie, wir machen das lieber am deutschen Volk vorbei und behaupten, die Schuld liegt in Brüssel. Dann gibt es ein paar Affen, die glauben, sie würde ausnahmsweise die Wahrheit sprechen. Das ist aber nicht die Wahrheit. Brüssel ist nicht der Erfinder; was in Brüssel an Neoliberalisierung und Militarismus läuft, stammt aus Berlin.
SB: Du hast schmissige Stücke wie beispielsweise "Faust auf Faust" mit Klaus Lage zusammen komponiert. Heute hast du einige Lieder mit anspruchvollen Texten von Bertolt Brecht vorgetragen. Wie sortierst du das Verhältnis zwischen leichter Muse und sprachlich wie intellektuell entwickelteren Kompositionen, die nicht für jedermanns Geschmack sind?
DD: Ich finde, die Facetten des Geschmacks sind bei einem Menschen, der sich zu entfalten versucht, so weit und elaboriert wie der Alltag selber, auf den sich diese Lieder beziehen. Es gibt bei mir Stimmungen, wenn ich schwere Niederlagen zu verdauen habe, wo ich nach einer bestimmten Musik greife. Dann gibt es wiederum Stimmungen, in denen ich sprudelnd bin und gerne Phil Collins, Cat Stevens, Bruce Springsteen oder Billy Joel höre. In anderen Momenten freue ich mich sehr auf eine Eisler-Sinfonie, auf ein Werk von Mikis Theodorakis oder auf Beethovens Violinkonzert in D-Dur, Opus 53, weil mir das die entsprechende Kraft verleiht. Man sollte in sich hineinhören und sich nicht mit der Festlegung eines Geschmacks verriegeln. Der Free Jazz kann einem in bestimmten Situationen genauso wie eine leichte Muse Trost und Balsam schenken. Bloß kein Kampf zwischen E- und U-Musik, leichter oder schwerer Muse, sondern so, wie wir Menschen in unserer ganzen Differenziertheit sind, wollen wir auch künstlerisch bedient werden.
SB: Du bist damit konfrontiert, die Welt anders zu sehen, als du es mit 30 Jahren getan hast. Ist es aus deiner Sicht gesellschaftlich erforderlich, die Positionen von älteren Menschen in dieser Generationenkonkurrenz, die teilweise auch unter dem Begriff der Generationengerechtigkeit exzessiv geschürt wird, klarer zu machen und vielleicht auch den Wert der im Alter anwachsenden Fähigkeiten stärker nach vorne zu bringen?
DD: In meiner letzten CD "Grosse Liebe reloaded" habe ich gesagt, daß man keine so übertriebene Angst vor dem Alter haben sollte. Sexualität und Erotik müssen nicht unbedingt an Bedeutung abnehmen, auch wenn ihr quantitativer Radius vielleicht etwas eingeengt ist. Das kann durch gestiegene Qualität ersetzt werden. Außerdem bin ich nicht dagegen, daß man zu bestimmten Arzneien Zuflucht nimmt. Man kann für alles offen werben. Ich kenne Männer, die ihre Stimmung durch Testosteron, Cremes und so weiter wieder aufhellen. Man sollte auch ein bißchen Sport treiben. Ansonsten ist es gut, daß die Indianer älteren Menschen länger zuhören als jüngeren. Sie übertreiben den Jugend-Fetisch nicht so wie wir. Warum soll ein junger Mensch mehr wissen als ein alter? Man sollte nur nicht so tun, als ob die Sichtweisen, die vor 30 Jahren entstanden sind, auch wenn sie sich inzwischen weiterentwickelt haben, das Nonplusultra für die Sichtweisen von heute sind.
Natürlich kann ich mit meinem Smartphone nicht so umgehen wie meine Kinder oder Enkel, aber wichtig ist, daß man im Klassenkampf, also im politischen Kampf, auf die Älteren hört. Ich wünschte, wir hätten Franz-Josef Degenhardt noch unter uns. Ich habe ihn oft besucht, wir waren eng befreundet. Er hat mich immer an meinen Geburtstagen angerufen und gesagt: Lerryn, ich habe es nicht vergessen. Er hat mich immer Lerryn genannt. Ich wünschte, wir hätten noch so viele unter uns. "Denn man muß dem Weisen seine Weisheit erst entreißen", schrieb Brecht in dem Gedicht "Legende von der Entstehung des Buches Tao Te King auf dem Weg des Laotse in die Emigration."
Ich hoffe auch, daß Gregor Gysi uns mit seinem Rat noch lange erhalten bleibt. Ich höre ihm sehr oft sehr gerne zu, genauso wie ich Sarah Wagenknecht und Oskar Lafontaine und anderen zuhöre. Wichtig ist nur, daß man niemanden aufs Altenteil schiebt, denn die Älteren haben Dinge gesehen, die die Jüngeren nicht gesehen haben. Und wenn ein Alter wirklich links ist, dann ist das doch gut konserviert, es sei denn, er geht von links nach rechts; so einen braucht man dann meistens nicht mehr. Doch wenn einer links geblieben ist, hat er viel zu sagen. Erst einmal mein Appell an die jungen Frauen: Versucht es mit alten Männern, das kommt mir zugute. Mein zweiter Appell geht an die jungen Genossinnen und Genossen: Hört mehr hin, weil so schlecht ist das, was wir hier auf der Waldeck erlebt haben, auch nicht gewesen.
SB: Diether, vielen Dank für das Gespräch.
Erstveröffentlichung auf "Schattenblick".