Die Verständigeren beginnen, nach Gründen für die wachsenden Flüchtlingsströme nach Europa zu fragen. Sie anerkennen den Wunsch von Menschen, ihr Leben zu retten, unerbittlicher Not zu entkommen und für sich und ihre Familien eine Perspektive zu suchen.

Der deutsche Innenminister bekannte sich jüngst mit einer neuen Prognose von 800 000 Asylbewerbern für dieses Jahr zum Scheitern der Politik der Festung Europa. Das UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) bilanzierte 2013 weltweit 50 Millionen Flüchtlinge, im folgenden Jahr bereits 60 Millionen.

 

Regelmäßige Tragödien im Mittelmeer, dieses tiefe Grab für bereits tausende Flüchtlinge, Bilder von unter freiem Himmel lagernden Menschen in Mazedonien, der Andrang am Tunnel unter dem Ärmelkanal, den die Polizei inzwischen mit Bestrafung von LKW-Fahrern, die bei aufgesprungenen Flüchtlingen ein Auge zudrücken, unter Kontrolle bekommen will.

 

Einige Prominente erscheinen in den Medien und werben für Verständnis für die verzweifelte Entscheidung von Menschen, die nicht freiwillig ihre Heimat, ihr soziales Umfeld, ihre Kultur verlassen. Bürger und Bürgerinnen wenden sich ankommenden Flüchtlingen zu, um zu helfen und ihnen zu zeigen, dass sie nicht nur angefeindet werden.

 

Das ist schön, aber eben auch fragil, weil die brutalsten Ursachen immer noch nicht eingeräumt und nicht gestoppt werden. Die Völkerwanderung eine Armutswanderung zu nennen, greift zu kurz. Wenn man die Herkunftsländer der überwiegenden Anzahl an Flüchtenden vergleicht, so sind es eben diese Orte, die der Westen seit den 1990er-Jahren zum Labor für die Neuordnung „seiner“ Hegemonie erkoren hatte: Jugoslawien, Irak, Afganistan, Libyen, Syrien.

 

Völkerechtswidrige Angriffskrieg in Folge, das ist inzwischen allgemeines Wissen. Das Begründungsmodell von vermuteten Massenvernichtungswaffen in Händen von Diktatoren und Beistand für um Selbstbestimmung ringende Völker längst entlarvt. Man ging zur Tagesordnung über, die Verbrecher im Range von Ministern und Regierungschefs blieben ungestraft.

 

Und das obwohl diese Interventionskriege einen auffallend hohen Anteil an Einsätzen gegen die zivile Infrastruktur in den Ländern zeigten, die zum Opfer wurden. Elektrizität, Wasser, Brücken, Verwaltungsgebäude, Medieneinrichtungen, Schulen, Krankenhäuser – Kriegsverbrechen in Serie.

 

Ein genauerer Blick auf die Länder, die zum Opfer der Neuordnungskriege geworden sind zeigt, es handelte sich um eben die Länder mit der modernsten sozialen und Infrastrukur in ihrer Region: Irak, Libyen, Syrien. Hier wurden Zivilisationen ausgelöscht.

 

Dies war gewollt. Denn es verbleiben Rumpfstaaten, Milizen, Statthalter, gut zu händeln. Im Fall von Jugoslawien eine Reihe von Kleinststaaten, die an Verhandeln auf Augenhöhe nicht denken können. Das zur Unabhängigkeit gebombte Kosovo ist heute das ärmste Land Europas, aber beherbergt seither die größte US-Militäranlage auf dem Kontinent: Camp Bondsteel. Die heute meist diskriminierte und gefährdete Volksgruppe im Kosovo, die Roma, stellen ein großes Kontingent an Flüchtlingen.

 

Die Politiker der westlichen Demokratien, zeitgenössisch nur noch Schatten von Staatslenkern, eher subalterne Angestellte der großen Konzerne und Finanzgruppen, bevorzugen für internationale Verträge ehemalige Staaten, in denen jede wirtschaftliche und soziale Substanz für Souveränität zerstört ist.

 

Wieso zeigen sie sich nun überrascht vom Ausmaß der Flüchtlingsströme, die doch ihr eigenes Handeln hervorgerufen hat?