Die Bruchstellen in der Europäischen Union werden immer dramatischer. Bei den neoliberalen Ansprüchen Englands, dem Festhalten Deutschlands an seiner Exportdominanz und bei der Flüchtlingskrise. Die Chefs der EU beschwören ihre Einheit. Aber: "Im Moment ist nicht die Gemeinsamkeit der Herrschenden das Wichtige, sondern die Gemeinsamkeit der Beherrschten", betont Diether Dehm in seinem Gespräch mit Sputnik Deutschland.

 

Herr Dehm, der Zusammenhalt Europas ist in der Flüchtlingskrise auf eine harte Probe gestellt. Wegen des Flüchtlingszustroms setzen zurzeit mindestens sechs EU-Mitgliedsstaaten auf Grenzkontrollen. Und Großbritannien möchte eigentlich gar nicht mehr zur Europäischen Union gehören. In Brüssel und Straßburg versucht man die Briten nun mit Zugeständnissen zu überhäufen. Ist das Ihrer Meinung nach richtig? Muss die Insel Teil der EU bleiben?

Wenn man die europäische Idee ernst nimmt, dann gehören die europäischen Länder in die EU. Aber diejenigen, die die EU schon sehr nach dem Wunsch der britischen Neoliberalen und der britischen Börse ausgerichtet haben, haben ja eine EU gebaut, die nicht wirklich die soziale Integration, sondern nur die Ausweitung und den Freihandel befördern wollen. Im Kern ist das Primärrecht der EU, in die soziale Richtung zu reformieren. Und nicht, wie es die britische Regierung möchte, in die unsoziale Richtung der Großspekulanten.

 

Also das heißt, wir können auf die Briten in diesem Fall verzichten?

Das Wort "Verzicht" ist für mich als Oppositionspolitiker fehl am Platze, weil ich bin nicht der, der das zu entscheiden hat. Ich weiß nur, dass die Vorbehalte — nicht nur in England, in Irland, Schottland oder den Niederlanden — auch im Wesentlichen bei den so genannten "kleinen Leuten", den Gewerkschaften, bei den Sozialverbänden darin bestehen, dass man eine EU des großen Geldes und der Börsen gebaut hat. Und alles, was jetzt von den Briten gefordert wird, soll dies ja noch verstärken. Wir würden also dem Vampir die Oberaufsicht über die Blutkonserven geben, wenn wir dem jetzigen Wunsch der Briten auch nur einen Millimeter nachgeben würden.

 

Nun gibt es Stimmen in Brüssel, die sagen: Es gilt der Satz "Gemeinsam sind wir stark", so auch in der Flüchtlingskrise. Es müsse also Kompromisse geben, um eben gemeinsam diese Krise zu bewältigen...

Ja, aber der Satz "Gemeinsam sind wir stark" ist ja ein Satz, der ursprünglich aus der Arbeiterbewegung und aus der Linken stammt. Und hier wurde dieser Satz, wie schon bei den Worten "Reformen" und "Solidarität", von den Herrschenden in ihrem Sinn umgekehrt. Gemeinsam sind wir nur stark, wenn wir das, was in den Verfassungen der einzelnen Staaten steht, ernst nehmen. Und es gibt dort keine Staatlichkeit ohne eine Sozialstaatlichkeit. Ohne die Menschen mitzunehmen, die bisher zum Beispiel Opfer der deutschen Exportüberschüsse und der Niedriglohnpolitik der Bundesrepublik geworden sind, wird es weiter einen Durchmarsch der Neoliberalen geben. Oder auch einen Durchmarsch der Vollpfosten, die beispielsweise in Ungarn regieren.

Im Moment ist nicht die Gemeinsamkeit der Herrschenden das Wichtige, sondern die Gemeinsamkeit der Beherrschten. Das heißt, dass wir mal in den Verfassungen nachstöbern sollten, was da an wunderbaren Sätzen drin steht. Beispielsweise unser Artikel 14 des Grundgesetzes, oder auch der Artikel 15. Und Ähnliches findet man in allen europäischen Verfassungen, die als Antwort auf die verschiedenen Faschismen damals entstanden sind. Alles das fehlt im Vertrag von Lissabon (EU-Grundlagenvertrag), fehlt im Maastricht-Vertrag (Vertrag über die Europäische Union). Und deswegen werden bei jeder Krise die Sollbruchstellen deutlich, erst recht bei großen Krisen, wie aktuell der Flüchtlingskrise. Das sind die Sollbruchstellen zwischen "unten" und "oben".

 

Wenn wir von den "Herrschenden" reden: Wer in der Flüchtlingskrise zurzeit ebenfalls von der EU hofiert wird, ist der türkische Präsident Erdogan. Nach monatelangem Streit haben sich die Europäer nun endgültig auf die versprochene Türkeihilfe von drei Milliarden Euro geeinigt. Spielt die Türkei tatsächlich solch eine Schlüsselrolle in der Flüchtlingsfrage?

Erstens weiß niemand, wo die drei Milliarden herkommen sollen. Wenn man mal tief in die Fraktionen von Union und SPD hineinhorcht, dann ist da ganz große Unsicherheit, wo das Geld am Ende herkommen soll. Zweitens möchte ich noch einmal mein Bild von dem Vampir, dem man die Blutkonserven anvertraut, bemühen: Wer die PKK völlig unnötig und blutig verfolgt, ohne Not einen längst schon greifbaren Frieden mit den Kurden aufkündigt und in Massaker übergeht, dem wird dann noch das Wort "sicheres Herkunftsland" zugebilligt, oder ähnliche Prämien gezahlt. Nur um Erdogan bei Laune zu halten. Dieser Gangster und Diktator ist ja sogar noch 1999 vier Monate in der Türkei in den Knast gegangen, weil er sagte: "Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten“. Dafür musste er vier Monate absitzen, er ist ein Krimineller. Diesem kann man nicht solche Zugeständnisse machen.

 

Nun hat die Türkei noch nicht einmal große Garantien gegeben, dass das von der EU gezahlte Geld auch tatsächlich dort ankommt, wo es gebraucht wird: also beispielsweise zur Errichtung von Flüchtlingscamps. Klingt das nicht alles sehr nach einem EU-Schnellschuss?

Das ist nicht der erste Schnellschuss, vieles wird in der EU aus der Hüfte geballert. Vieles stellt sich erst nach Medienberichten als Unwahrheit heraus, obwohl es von der EU als Wahrheit dargestellt wurde. Irgendwann stand in den vergangenen Wochen sogar in der WELT ein Artikel, dass Russlands Präsident Putin Recht gehabt hat, als er die Finanzströme aus dem Reich Erdogans und zum Teil seiner Familie zum Islamischen Staat benannt hat. Und selbst die WELT hat das geschrieben, als SPRINGER-Presse. Wer den IS unterstützt, sorgt für weitere Flüchtlinge. Deswegen kann Erdogan kein Partner sein in der Auseinandersetzung vieler europäischer Staaten mit der Flüchtlingskrise. Er ist völlig disqualifiziert.

 

Wie verzweifelt ist denn Brüssel gerade auf der Suche nach einer Lösung in der Flüchtlingsfrage? Oder sind die EU-Staaten bereits so unterschiedlicher Meinung, dass es nur noch nationalstaatliche Lösungen geben kann?

Erst einmal ist nicht alles, was man als nationalstaatliche Lösung darstellt, eine schlechte Lösung. Wir haben keinen großen europäischen Super-Staat in der EU, der ist ausdrücklich nicht gewollt. Wir haben einen Verbund von Nationalstaaten. Und die haben erst einmal ihre Gesetze und ihre Rechte. Dann gibt es noch die Genfer Flüchtlingskonvention, die man im Einzelnen auch mal lesen sollte, ich halte die für angemessen. Und dann gibt es noch das jeweilige Asylrecht in den unterschiedlichen Ländern.

Was das politische Asyl angeht, so war ich in den 90er Jahren schon der Meinung, dass das in vollem Umfang aufrechterhalten werden muss. Wer verfolgt wird — zum Beispiel auch PKK-Kämpfer, die tapfer gegen den IS kämpfen und dann von Erdogan und dem IS gleichzeitig bombardiert werden – muss das Recht haben, in der Bundesrepublik Deutschland aufgenommen zu werden. Das politische Asylrecht hat natürlich keine Grenze, weil wenn jemand politisch verfolgt wird, weil er gewerkschaftlich engagiert ist, oder weil er Linker ist, weil er Kommunist ist, weil er eine andere politische Auffassung hat — übrigens auch in Osteuropa — der kann nicht irgendwann gesagt bekommen: "Der Deckel ist zu, du kommst hier jetzt nicht mehr rein". Das politische Asylrecht ist, auch wenn es die Mehrheit der aktuellen Flüchtlinge nicht betrifft, unbegrenztes Recht.

 

Blicken wir abschließend auf das politische Berlin: Viele Beobachter sehen Merkels Macht in der Flüchtlingskrise schwinden. Die AfD ist auf einem Allzeithoch und laut aktueller Umfrage ist eine große Mehrheit der Deutschen mit der Flüchtlingspolitik hierzulande unzufrieden. Hat die Regierung also versagt — oder hat sie ihre Politik nur nicht richtig erklärt?

Ich mache es an einem Beispiel fest: Wir hatten in Hannover schon vor dem Flüchtlingszustrom 21.000 Sozialwohnungen zu wenig gehabt. Wir haben in den Ämtern eine neoliberale Ausdünnungspolitik, die einem reichen Land wie der Bundesrepublik spottet. Also dass wir Beamte abbauen — das gilt auch für Polizeibeamte — das alles weist darauf hin, dass der Staat an der falschen Stelle gespart hat. Und deswegen kommen die Probleme. Es wird zu wenig für die Menschen getan, die hier unverschuldet in Not geraten sind.

Alleinerziehenden Müttern und Langzeitarbeitslosen muss klar gemacht werden, dass wir genauso auch für sie da sind. Was die AfD will, ist der Krieg der kleinen Leute: Flüchtlinge gegen Hartz IV-Empfänger. Das ist ganz furchtbar. Auch wenn es plötzlich gegen den Mindestlohn geht: Deutschland hat die Eurokrise ja durch viel zu niedrige Löhne mitverschuldet. Es gab zu wenig Kaufkraft für die vielen Waren, die ja weiter produziert werden. Wer auf Dauer glaubt, immer nur exportieren zu können und nicht zu importieren, wird einen sehr ungesunden ökonomischen Zustand herbeiführen. Wir brauchen deshalb ein sehr deutliches Signal: Mindestlohn darf nicht angetastet werden. Höhere Löhne, höhere Renten, damit höhere Binnenkaufkraft in Deutschland.

Und das sind die entscheidenden Signale, die von der Bundesregierung nicht gekommen sind. Deswegen sind Ängste da. Und das nutzen die braunen Rattenfänger. Ob sie von ganz rechts kommen, also den Nazis, oder von den Rechtspopulisten, also der AfD. Die machen hier ihren Gewinn. Und das ist schon einmal in der deutschen Geschichte geschehen. Da hatten die Herrschenden auch geglaubt, einen Staat kaputt sparen zu können, in den 20er und 30er Jahren. Und das Ergebnis kennen wir, dieser Fehler sollte nicht wieder gemacht werden. Wir brauchen einen starken Sozialstaat. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen EU-Staaten. Dann kann man dem Problem beikommen. Und wir müssen verhindern, dass die so genannten "kleinen Leute" nicht gegeneinander ausgespielt werden.


Interview: Marcel Joppa