Gern schreibe ich einen Artikel für DiEM25, die Bewegung für Demokratie in Europa in der Europäischen Union. Ich sehe in DiEM25 eine breite, verschiedene Strömungen umfassende und nicht in Konkurrenz zu ihnen stehende politische Bewegung, die sich in der jetzigen Situation die umfassende Demokratisierung der Europäischen Union zum Ziel gesetzt hat.

Der Weg zu einer solchen grundlegenden demokratischen Erneuerung muss heute beginnen! Wir dürfen aber keine Illusionen über die Schwierigkeiten der vor uns liegenden Aufgaben und des zu erwartenden Widerstands machen. Realismus und Beharrlichkeit sind daher ebenso unverzichtbar wie das Streben nach breiten Bündnissen möglichst vieler demokratischer Kräfte.

dehm kongress madrid

Um Erfolge zu erzielen, müssen wir auch auf Erfahrungen der europäischen Geschichte zurückgreifen: In diesem Zusammenhang verweise ich auf die Antworten auf den Faschismus, den verschiedene Staaten nach der Befreiung gefunden und in ihren nationalen Verfassungen verankert haben. Das gilt vor allem auch für einige der jetzigen EU-Mitgliedstaaten. Daran bewusst anknüpfend, kann die DiEM25 eine reale Verankerung in der europäischen Geschichte finden und eine umfassende demokratische Perspektive für die Europäische Union entwickeln und durchsetzen.

 

Demokratie in der Europäischen Union und im Verhältnis von Mitgliedstaten und der EU

Die Demokratisierung der Europäischen Union muss auf ihren beiden organisationspolitischen Ebenen stattfinden: Zum einen in der EU und ihren Organen und Institutionen selbst, zum anderen in der demokratische Einwirkung der nationalen Parlamente sowie der Bürgerinnen und Bürger der Mitgliedstaaten durch demokratische Volksentscheide.

EU-intern muss vor allem das Europäische Parlament (EP) wirkliche parlamentarische Rechte erhalten. Ein Gesetzgebungsverfahren durch den Rat als die Vertretung der nationalen Regierungen bei bloßer Beteiligung des EP darf es in Zukunft nicht mehr geben. Vor allem muss das EP endlich das für Parlamente selbstverständliche und konstituierende Recht haben, selbst eine Gesetzesinitiative zu ergreifen. Hier muss das völlig undemokratische Monopol der EU-Kommission endlich fallen.

Notwendig ist auch, die für die Politik der Europäischen Zentralbank (EZB), die für die Mitgliedsstaaten und die Bevölkerung der gesamten EU von einschneidender Bedeutung ist, endlich demokratischer parlamentarisch legitimierter Kontrolle zu unterwerfen. Noch mehr gilt das für Institutionen ohne jede demokratische Legitimation wie die „Troika“.

 

Dezentralisierung sowie Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit

Die EU basiert auf dem Prinzip, dass Hoheitsrechte von den Mitgliedstaaten nur nach dem „Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung“ übertragen werden dürfen und die Organe der EU bei der Anwendung der ihnen eingeräumten Befugnisse die Prinzipien der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit zu wahren haben. In der Realität ist das weithin nicht der Fall. Die Regelungen des EU-Rechts in Artikel 5 EU-Vertrag und in dem entsprechenden Subsidiaritätsprotokoll haben sich als völlig unzureichend erwiesen. Zur Sicherung der demokratischen Legitimation der EU-Politik müssen daher die Einwirkungsmöglichkeiten der nationalen Parlamente der Mitgliedstaaten verstärkt werden.

Wir dürfen in unserem Bestreben nach weitest gehender Demokratisierung der EU aber nicht vergessen, dass wir uns dabei aktuell nicht in der Offensive befinden. Ich nenne als ein Stichwort das „TTIP“. Dieses Transatlantische Handels- und Investitionsabkommen soll demokratisch erkämpfte Erfolge auf den Gebieten des Arbeits- und Gesundheitsschutzes, der Ökologie und der Verbrauchersicherheit absenken und dem jeweils niedrigeren Niveau des Vertragspartners anpassen. Als zweites Stichwort nenne ich die angestrebte EU-interne „bessere Regulierung“ (better regulation). Hier sollen demokratische Gesetzgebung und Rechtsetzung insgesamt durch marktkonforme Regulierung im Interesse der Konzerne umgestaltet werden, teilweise auch mittels Auslagerung auf Akteure, die keinerlei demokratische Legitimation haben. Zugleich ist geplant, die Rechtsetzung verstärkt einer Folgeabschätzung (Impact assessment) zu unterziehen, die nicht etwa unter dem Gesichtspunkt demokratischer Legitimation oder gesellschaftlicher Nützlichkeit stattfinden, sondern den wirtschaftlichen (Kosten und Gewinn-) Interessen der Unternehmen dienen soll.

Mehr Demokratie in der EU durchsetzen, heißt daher aktuell vor allem, die weiteren Anschläge auf die verbliebenen Reste von Demokratie in der Europäischen Union durch die aktuellen Initiativen von „TTIP“ und „better regulation“ verhindern!

 

Vergesellschaftung und Sozialbindung als Elemente der Demokratisierung

Demokratisierung kann nicht nur als Frage der Zurückdrängung illegitimer nationalstaatlicher wie EU-spezifischer politischer Machtpositionen verstanden werden. Gerade die Macht der Großkonzerne und ihr Einfluss auf die politischen Entscheidungsträger lässt wirkliche Demokratie zunehmen leer laufen. Das deutsche Grundgesetz hatte daher nach der Befreiung vom Faschismus in seinem Artikel 15 von Verfassungs wegen geregelt: „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden.“ Wenn Demokratie und Demokratisierung nicht formal bleiben sollen, müssen auch solche wirtschaftlichen Einschnitte zur Überwindung demokratisch illegitimer Macht durchgesetzt werden. Immerhin sieht Artikel 345 des Vertrags über die Arbeitsweise der der Europäischen Union (AEUV) ausdrücklich vor: „Die Verträge lassen die Eigentumsordnung in den verschiedenen Mitgliedstaaten unberührt.“

Dennoch dürfen die Schwierigkeiten nicht unterschätzt werden, die Unzufriedenheit mit den Entscheidungen der Großunternehmen und ihren Auswirkungen auf die Menschen in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen in soziale Bewegungen für eine Demokratisierung der Wirtschaft entstehen zu lassen, die politisch Forderungen bis hin zu einer Vergesellschaftung von Produktionsmitteln aufstellen und durchsetzen.

Insofern ist auch an Artikel 14 Absatz 2 des Grundgesetzes zu erinnern, in dem es heißt: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ Eine ähnliche Vorschrift im EU-Primärrecht und die Verpflichtung der Europäischen Union auf Sozialstaatlichkeit entsprechend der Regelung in Artikel 20 des Grundgesetzes würden schon im Vorfeld von Maßnahmen der Vergesellschaftung wichtige Schritte zur Demokratisierung der Europäischen Union darstellen können.

 

Demokratisierung und Frieden

Die Konsequenz der nationalen Verfassungen verschiedener Mitgliedstaaten der EU nach der Befreiung vom Faschismus war nicht nur die Verankerung der Prinzipien von Demokratie sowie der Rechts- und Sozialstaatlichkeit, sondern auch die Verpflichtung auf eine friedliche und friedensfähige Außenpolitik. In Artikel 26 des deutschen Grundgesetzes heißt es etwa: „Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe zu stellen.“

Die EU-Verträge hingegen enthalten derartige Festlegungen auf eine eindeutige Friedensorientierung nicht. Im Gegenteil: Gegenwärtig beteiligt sich die deutsche Bundeswehr an dem Bürgerkrieg in Syrien. Die französische Regierung und die deutsche Bundesregierung berufen sich dabei – zu Unrecht – auf den Artikel 42 Absatz 7 des EU-Vertrags: „Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats schulden die anderen Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung, im Einklang mit Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen.“ Das zeigt, dass in der EU nicht nur eine Demokratisierung vonnöten ist, sondern dass auch die Vorschriften über die „Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ aufgehoben werden müssen.

Eine grundlegende Reform, die der Europäischen Union eine Zukunft geben soll, erfordert insgesamt die Abwehr von aktuell drohenden undemokratischen Vertragsänderungen und eine tiefgreifende Demokratisierung der EU ebenso wie mehr Rechts- und Sozialstaatlichkeit. Vor allem aber wird eine friedfertige EU benötigt und keine, die durch Beteiligung an kriegerischen Aktionen die Anzahl der flüchtenden Menschen und die sozialen Folgen der Fluchtbewegungen ins Unermessliche lässt.

Diether Dehm