Kompromissvorschläge zur EU-Dienstleistungsrichtlinie:

Am 22. November 2005 hat der Binnenmarktausschuss des Europäischen Parlaments seinen Bericht mit Änderungsanträgen zum Richtlinienentwurf der Kommission über Dienstleistungen im Binnenmarkt beschlossen. Dieser Bericht wird im Europäischen Parlament am 16. Februar 2006 abgestimmt.
Der Bericht unterstützt den Entwurf der Kommission in seinen wesentlichen strategischen Grundzügen und Bestimmungen. Insofern verwundert es nicht, dass sowohl die Kommission als auch der Rat sich vor der Ersten Lesung des Parlaments nicht äußern wollten, um anschließend möglichst zügig über die Richtlinie zu beraten. Auch die Bundesregierung und der Bundesrat haben sich - trotz schwerer inhaltlicher Differenzen zwischen den Koalitionsparteien - auf eine abwartende Haltung verständigt. Dies haben auch die Aussagen der Bundesregierung in den vergangenen Sitzungen des Europaausschusses des Deutschen Bundestages gezeigt.
Die Spitzen von Konservativen (PPE-ED) und Sozialdemokraten (PSE) im Europäischen Parlament haben sich am 9. Februar 2006 – im unmittelbaren Vorfeld der Demonstrationen gegen die Dienstleistungsrichtlinie in Berlin und Straßburg - über ein Paket gemeinsamer Änderungsanträge zum Bericht des Binnenmarktausschusses verständigt. Dieses Kompromisspaket wurde erwartungsgemäß als "ausgewogener Kompromiss zwischen Marktöffnung und sozialer Gestaltung des Dienstleistungsbinnenmarkts" bejubelt. Inhaltlich würden die konservativ- sozialdemokratischen Kompromissanträge den Richtlinienentwurf zwar in einigen Punkten abmildern. Das zugrunde liegende Ziel einer weitgehenden Liberalisierung und Deregulierung des Dienstleistungssektors bleibt jedoch unverändert erhalten.
Die Medien erweckten den Eindruck, dass der Richtlinienentwurf der Europäischen Kommission damit schon hinfällig sei. Dies ist aber nicht der Fall: Das Europäische Parlament kann nicht allein über die Ausgestaltung der Richtlinie entscheiden, sondern nur gemeinsam mit dem Rat. Welche der im folgenden genannten Kompromissvorschläge schlussendlich tatsächlich vom Europäischen Parlament verabschiedet werden, ist zur Stunde noch unbekannt. Anschließend sind zudem die Kommission und der Rat am Zug. Bisher ist eine Mehrheit der Regierungen der EU- Mitgliedstaaten im Grundsatz immer noch für das Herkunftslandsprinzip.
Gewerkschaften, soziale Bewegungen, Handwerker und KMUs haben daher allen Grund, mit vielfältigen Protesten, Demonstrationen und kritischer Öffentlichkeitsarbeit den Druck auf das Europäische Parlament und die Regierungen der Mitgliedstaaten aufrecht zu erhalten.
1. „Dienstleistungsfreiheit“: Herkunftslandsprinzip durch die Hintertür
Der Kompromissvorschlag von Sozialdemokraten und Konservativen zu Artikel 16 des Richtlinienentwurfs schafft weiterhin keine Rechtsklarheit darüber, welche Vorschriften bei einer zeitweiligen grenzüberschreitenden Dienstleistung im Tätigkeitsland zur Anwendung kommen sollen. Um den Hauptkonflikt zwischen beiden Fraktionen vordergründig zu entschärfen bzw. ganz auszuklammern, wird konsequent vermieden, vom Herkunftslandsprinzip (oder alternativ vom Bestimmungslandprinzip) zu sprechen. Statt dessen wurde einfach ein neuer Begriff eingewechselt: Nunmehr ist vom „freien Dienstleistungsverkehr“ die Rede. An dem „mit diesem Prinzip beabsichtigten Ziel soll sich aber nichts ändern“, wie das Brüsseler Verbindungsbüro des Aufbaustabes Europa des Deutschen Bundestages zu Recht anmerkt (Flash aus Brüssel, 09.02.2006).
Der Antrag hält zunächst fest, dass die Mitgliedstaaten das Recht des in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union niedergelassenen Dienstleistungserbringers anerkennen, in einem anderen Mitgliedstaat Dienstleistungen zu erbringen. Der Antrag macht keine Aussage dazu, welche Vorschriften und Standards dabei zur Anwendung kommen sollen. Wenn z. B. ein spanischer Architekt beauftragt wird, in Saarbrücken ein Haus zu bauen und dabei mit einem belgischen Ingenieur und einem portugiesischen Bauleiter zusammenarbeitet - welches Recht, welche Qualitäts-, Verbraucherschutz- und anderen Standards sollen dann gelten? Elementare Fragen dieser Art bleiben vollständig ungeklärt.
Der Kompromissantrag hält nur soviel fest: Die Mitgliedstaaten dürfen von Dienstleistungserbringern aus anderen Mitgliedstaaten nicht verlangen, die im Tätigkeitsland geltenden Vorschriften und Anforderungen zu erfüllen, sofern diese nicht den Kriterien der Nicht-Diskriminierung, der Notwendigkeit und der Verhältnismäßigkeit entsprechen. Dies ist eine weitgehende Einführung des Herkunftslandsprinzips durch die Hintertür, denn: Das Kriterium der "Notwendigkeit" wird einschränkend definiert, d. h. die Anforderungen des Mitgliedstaates dürfen nur auf Gründen des öffentlichen Interesses und der öffentlichen Sicherheit sowie des Umwelt- und Gesundheitsschutzes beruhen. Das Kriterium der "Verhältnismäßigkeit" wird genauso definiert wie bereits im Richtlinienentwurf der Kommission: Anforderungen und Vorschriften des Mitgliedstaats sind nur soweit statthaft, als sie über das "Notwendige" zum Erreichen der in der Vorschrift definierten Ziele nicht hinausgehen
2. Interpretationshoheit beim EuGH
Aufgrund der oben beschriebenen Unklarheiten und Vagheiten ist absehbar, dass künftig der Europäische Gerichtshof (EuGH) eine noch viel bedeutendere Rolle bei der Interpretation der Dienstleistungsfreiheit spielen wird, als es bisher schon der Fall ist. Es ist zu erwarten, dass es bei steigender grenzüberschreitender Erbringung von Dienstleistungen zu zahlreichen Einzelfallklagen kommen wird, z. B. hinsichtlich der Frage, ob Vorschriften und Anforderungen eines Mitgliedstaats gegenüber einem im EU-Ausland niedergelassenen Dienstleister den oben beschriebenen drei Kriterien genügen. Der EuGH ist für seine liberalisierungsfreundliche Rechtsprechung in punkto Dienstleistungsfreiheit bekannt. Es ist somit zu erwarten, dass es aufgrund der Rechtsprechung des EuGH zu einem gehörigen Deregulierungsdruck auf die Mitgliedstaaten kommen wird. Die Schärfe, die der Kompromissvorschlag vorgeblich aus dem Entwurf genommen hat, kann so über den Umweg des EuGh jederzeit wieder eingeführt werden.
3. Rigide Vorschriften hebeln Vorschriften in den Mitgliedstaaten aus
Darüber hinaus listet der Antrag sieben Kategorien von Anforderungen der Mitgliedstaaten auf, die künftig im Zusammenhang des freien Dienstleistungsverkehrs für unzulässig erklärt werden sollen. Unter anderem soll es ihnen untersagt werden, von Dienstleistern aus anderen Mitgliedstaaten z. B. die Vorlage eines Zulassungsdokuments ihres Herkunftslandes für die Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit zu verlangen, "selbstbeschäftigten Dienstleistern" einschränkende Auflagen zu machen (Scheinselbständigkeit!) oder - mit Ausnahme von Gründen der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes am Arbeitsplatz - Anforderungen an Ausrüstungen und die zu verwendenden Materialien vorzuschreiben. Auch hier wird eine massive Deregulierung mitgliedstaatlicher Vorschriften die Folge sein.
Im Unterschied zum Antrag des Binnenmarktausschusses fordert der sozialdemokratisch-konservative Kompromissantrag eine deutliche Ausweitung der Möglichkeiten der Mitgliedstaaten, auf ihrem Territorium tätige Dienstleister auf die Einhaltung der heimischen Vorschriften zu verpflichten: Über den Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, der öffentlichen Gesundheit und der Umwelt hinaus sollen nun auch Gründe der Sozialpolitik und des Verbraucherschutzes zulässig sein. Den Mitgliedstaaten wird weiterhin die Möglichkeit zugestanden, im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht die Anwendung ihrer Vorschriften zu Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen (inklusive diesbezüglicher Bestimmungen von Kollektivverträgen) zu verlangen. Dies ist ein Fortschritt im Vergleich zu den bisherigen Plänen der Kommission, der den europaweiten Protesten zu verdanken ist. Dennoch bliebe das Tätigkeitsland stets in einem Begründungszwang, um die Einhaltung seiner heimischen Vorschriften geltend machen zu können.
3. Deregulierung des Niederlassungsrechts und Abschaffung von Auflagen
Nach wie vor soll es dabei bleiben, dass nach Artikel 14 der Dienstleistungsrichtlinie die Mitgliedstaaten künftig nicht mehr die Form der Niederlassung vorschreiben können. Sie dürfen nicht mehr verlangen, dass Dienstleister für eine Mindestdauer auf ihrem Territorium tätig oder in den Unternehmensregistern eingetragen sind. Ferner darf auch die oftmals rein formale Mehrfachregistrierung nicht unterbunden werden. Mit diesen Verboten schafft die Richtlinie einen Anreiz zur Ausnutzung der unterschiedlichen Regulierungsniveaus in der Europäischen Union durch Sitzverlagerungen. Sie erleichtert damit nicht nur die Steuerflucht, sondern auch die Umgehung von höheren Umwelt-, Arbeits- und Gesundheitsstandards, Qualifikationsanforderungen und Tarifverträgen im eigenen Land.
Ferner müssten die Mitgliedstaaten zahlreiche Vorschriften im Dienstleistungssektor einer gegenseitigen Überprüfung unterwerfen und gegebenenfalls beseitigen. Artikel 15 nennt u. a. Anforderungen an die Rechtsform, festgesetzte Mindestpreise oder Zulassungsgrenzen. Eine Beseitigung von Vorschriften über zulässige Rechtsformen behindert die Wahl von Organisationsformen für kommunale Aufgaben, die die grundgesetzlich vorgeschriebene demokratische Kontrolle sicherstellen. Ebenso können Vergünstigungen für Gesellschaften "ohne Erwerbszweck" auf den Prüfstand kommen, was die Gemeinnützigkeitsprivilegien freier Träger sozialer Dienste beträfe. Durch die Deregulierung festgesetzter Mindestpreise geraten nicht nur Honorarordnungen unter Druck, sondern auch Dumpingverbote. Schließlich kann die Beseitigung von Zulassungsgrenzen einen ruinösen Verdrängungswettbewerb in zahlreichen Gewerben auslösen.
3. Sozialdumping auch weiterhin Tor und Tür geöffnet
Im Beschluss des Binnenmarktausschusses wird zu Recht gefordert, dass das Arbeits- und Sozialrecht der Mitgliedstaaten sowie das Internationale Privatrecht durch die Dienstleistungsrichtlinie nicht berührt wird. Positiv ist ebenfalls, dass das EU-Recht zur Entsendung von Arbeitnehmern von der Richtlinie ausgenommen und die entsprechenden Artikel 24 und 25 des Kommissionsvorschlags gestrichen werden sollen. Die Kompromissanträge von PPE und SPE fordern weitere Präzisierungen zur Ausklammerung des Arbeits- und Sozialrechts. Ferner sollen die von den Mitgliedstaaten und der Europäischen Grundrechtecharta anerkannten Grundrechte einschließlich des Streikrechts von der Dienstleistungsrichtlinie nicht berührt werden. Zeit- und Leiharbeitsfirmen sollen nicht in den Geltungsbereich der Richtlinie fallen.
Ob dies alles genügt, um Sozialdumping im Dienstleistungsbinnenmarkt zu verhindern, ist aber mehr als fraglich. In vielen EU-Mitgliedstaaten sind Regelungen zur Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen des grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehrs nur für bestimmte Branchen erlassen worden (in Deutschland z. B. für das Bauhaupt- und -nebengewerbe). In den übrigen Branchen ist damit forciertes Sozialdumping bei der Anwendung der Dienstleistungsfreiheit schon jetzt möglich und an der Tagesordnung. Schlupflöcher in punkto Scheinselbständigkeit (‚osteuropäische’ Ausbeiner auf Schlachthöfen) tun ihr Übriges. Diese unerfreuliche Situation bei der Umsetzung der EU-Entsenderichtlinie fördert Sozialdumping, welches auch künftig gefördert würde. In welche Richtung zudem die von EU-Kommissionspräsident Barroso angekündigte Überprüfung der Arbeitnehmerentsenderichtlinie gehen wird, ist vorerst nicht abzusehen.
4. Im Nebulösen: Geltungsbereich und Rolle der öffentlichen Daseinsvorsorge
Nach wie vor unklar bleibt die Frage, welche Dienstleistungen nun von der Richtlinie ausgenommen werden sollen. Der Bericht des Binnenmarktausschusses fordert lediglich, Finanzdienste, Geldtransporte, Glücksspiele, audiovisuelle Dienste, hoheitliche Tätigkeiten (z. B. Notare) sowie jene Leistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge vom Geltungsbereich der Richtlinie auszunehmen, die nicht dem Wettbewerb unterliegen. Damit wären aber Dienstleistungen, z. B. im öffentlichen Nahverkehr, der Abfallwirtschaft etc. von der Richtlinie weiterhin erfasst, sofern sie in Ausschreibungsverfahren vergeben werden. Die wirtschaftlichen Dienste von allgemeinem Interesse (z. B. Elektrizitäts- und Gasversorgung, Telekommunikation, Postdienste, Abfallentsorgung und -verwertung, Wasserversorgung usw.) wären nach wie vor von der Richtlinie erfasst und wie beim Kommissionsentwurf nur vom Herkunftslandsprinzip ausgenommen. Für diese Sektoren würden nach wie vor die übrigen Bestimmungen der Richtlinie gelten.
Auch nach den Kompromissvorschlägen werden unter dem Begriff Dienstleistung „alle selbstständigen wirtschaftlichen Tätigkeiten“ verstanden, „die in der Regel gegen Entgelt erbracht werden (...)." Wirklich sicher ist damit nur, dass hoheitliche Aufgaben des Staates (z. B. Militär, Polizei, Gefängnisse) außerhalb des Geltungsbereichs der Richtlinie blieben, ebenso wie z. B. der kostenlose öffentliche Schulunterricht. Wie steht es jedoch um kommunale oder regionale Dienstleistungen, z. B. Ver- und Entsorger, Wasser- und Klärwerke, Kindergärten, Krankenhäuser, öffentliche Schwimmbäder, Volkshochschulen oder Universitäten? Für deren Dienstleistungen werden gewöhnlich Gebühren erhoben, also Entgelte. So wie der Begriff „Dienstleistungen“ in der Richtlinie definiert werden soll, wären offenbar auch große Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge betroffen. Die vorliegenden Vorschläge schaffen folglich keine Rechtsklarheit, inwiefern die öffentliche Daseinsvorsorge wirklich von der Richtlinie ausgenommen wird.
Positiv ist allein, dass angedacht ist, öffentliche wie private Gesundheitsdienste vollständig von der Richtlinie auszunehmen und Artikel 23 zur Erstattung von Behandlungskosten aus dem Kommissionsentwurf zu streichen. Die Kompromissanträge von SPE und PSE fordern darüber hinaus, Sicherheitsdienste, städtische Verkehrsdienste, Taxis, Rettungsdienste und Hafendienste vom Geltungsbereich der Richtlinie auszunehmen. Allgemein sollen Dienstleistungen, die einem "sozialen Gemeinwohlauftrag" verpflichtet sind, durch die Richtlinie nicht berührt werden. Angesprochen werden an anderer Stelle z. B. sozial gefördertes Wohnen, Kinderbetreuung, Familiendienste, Bildungs- und Kulturdienstleistungen mit sozialem Auftrag, aber nicht z. B. Pflegedienste, Weiterbildung usw. Die allgemeine Ausnahme von Gesundheitsdiensten vom Geltungsbereich der Richtlinie wollen Konservative und Sozialdemokraten näher präzisieren: Sie soll sich lediglich auf die für reglementierte Berufe (z. B. Ärzte, examinierte Krankenschwestern, Apotheker etc.) reservierten Gesundheits- und pharmazeutischen Dienste beschränken. Damit begrenzt der Kompromissantrag von PPE und SPE die Ausnahmen im Gesundheitswesen vom Geltungsbereich der Richtlinie sogar noch weiter, als dies zuvor der Binnenmarktausschuss getan hat.
Fazit: Weder der Bericht des Binnenmarktausschusses noch die Kompromissvorschläge von Sozialdemokraten und Konservativen verdienen das Prädikat "sozial ausgewogen". Die Kompromissanträge von Sozialdemokraten und Konservativen würden den Richtlinienentwurf zwar in einigen Punkten weiter abmildern - was zeigt, dass öffentliche Proteste wirken. Die Zielrichtung einer extremen Marktliberalisierung kehren aber auch diese Anträge nicht um. Es bleibt dabei: Die Dienstleistungsrichtlinie muss fallen!
Dr. Diether Dehm, MdB, Europapolitischer Sprecher der Fraktion DIE LINKE, Berlin
Klaus Dräger, Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Fraktion GUE/NGL, Brüssel