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Kategorie: Positionen

Thesen zur künftigen Europaarbeit der Bundestagsfraktion DIE LINKE. 

Wer den Sturz der PDS unter die Fünfprozent-Klausel bei der Bundestagswahl 2002 als endgültiges Verschwinden einer bundesweiten parlamentarischen Linken sah, wurde schon bei den erfolgreichen Europawahlen des Jahres 2004 eines Besseren belehrt: Die PDS konnte ihr Wahlergebnis von 1999 (5,8%) ausbauen und entsandte mit 6.1% der abgegebenen Stimmen einen weiteren Abgeordneten nach Straßburg. Bei der vorgezogenen Bundestagswahl 2005 hat die Offene Liste der Linkspartei.PDS nun sogar einen doppelt so hohen Stimmenanteil erringen können wie noch vor drei Jahren. Dies hat sehr unterschiedliche Ursachen.

Sicher ist aber: Nicht zuletzt die klare Haltung der Partei zur Europapolitik hat die Glaubwürdigkeit bei den Wählerinnen und Wählern erhöht. Auch hat sie erst die Einleitung des Fusionsprozesses mit der WASG und eine Spitzenkandidatur von Oskar Lafontaine im größten Bundesland Nordrhein-Westfalen ermöglicht.
Die Linksfraktion ist die einzige im Deutschen Bundestag vertretene Kraft, die sich klar und unmissverständlich gegen die zunehmende Militarisierung und neoliberale Ausrichtung der Europäischen Union positioniert. Beide Tendenzen prägen seit den Verträgen von Maastricht und Amsterdam mehr und mehr die Politik der Europäischen Union. Sie fanden und finden ihren Ausdruck in dem Verfassungsvertrag vom 29. Oktober 2004, der durch die demokratischen Entscheidungen der französischen und der niederländischen Bevölkerung vorerst gestoppt worden ist. Diesen Voten und auch der breiten Mobilisierung der deutschen Linken für einen anderen Verfassungsvertrag muss unsere Politik in den nächsten vier Jahren verpflichtet bleiben. Hierbei ist zu beachten, dass beide Entwicklungstendenzen nicht erst mit dem Verfassungsvertrag begonnen haben und auch mit ihm nicht verschwinden werden. Auch im Falle eines endgültigen Scheiterns des Verfassungsvertrages muss die Linksfraktion, zusammen mit ihren Bündnispartnern auf nationaler wie auf europäischer Ebene, die Militarisierung und neoliberale Ausrichtung der EU konsequent thematisieren und bekämpfen.   
Der Arbeitsbereich Europapolitik ist dem Arbeitskreis Internationale Politik zugeordnet. Im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der EU müssen die Mitglieder des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union unmittelbar mit den Kolleginnen und Kollegen des Auswärtigen Ausschusses mit seinen Unterausschüssen, des Menschrechts- und des Entwicklungspolischen Ausschusses kooperieren. Soweit möglich sollten Verzahnungen zwischen der Arbeit in den betreffenden Ausschüssen hergestellt und ein regelmäßiger Informationsaustausch etabliert werden.
Auch auf den Gebieten Wirtschaftspolitik, Währungs- und Außenhandelspolitik, Sozial- und Umweltpolitik sowie Innen- und Rechtspolitik bedarf es einer engen Abstimmung und Zusammenarbeit über die Arbeitskreisgrenzen hinweg. Hierzu sind personelle Verknüpfungen und übergreifender Informationsaustausch unerlässlich. In besonderem Maße gilt das für die europapolitisch ausgerichteten Unterausschüsse des Haushalts- und des Rechtsausschusses.
In der nächsten Zeit treten auf EU-Ebene die Auseinandersetzungen um die Dienstleistungsrichtlinie (Bolkestein-Richtlinie) in eine entscheidende Phase. Es mag zwar durch hohen öffentlichen Druck eine gewisse Entschärfung dieses neoliberalen Monstrums durchgesetzt werden. Wenn diese Richtlinie aber nicht ganz fällt, sondern in Teilbereichen durchgesetzt wird, wird dies ein weiterer Schritt zum Sozialdumping und zum Abbau von Standards der Arbeitssicherheit und des Umweltschutzes sein. Nach der Entscheidung des Europäischen Parlaments werden sich im Rat die Vertreterinnen und Vertreter der einzelstaatlichen Regierungen, auch der neuen Bundesregierung, mit der Richtlinie befassen. Die Linksfraktion muss ihre Kritik an der Richtlinie frühzeitig im Bundestag artikulieren und versuchen, eine möglichst breite Ablehnung der Richtlinie durch das Parlament zu erreichen. Dies erfordert eine frühzeitige Willensbildung im Bundestag, die durch die verschiedenen Fachausschüsse und vor allem durch den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union vorzubereiten ist. Vorbereiten müssen wir zügig und zugleich intensiv auch die Auseinandersetzungen um neue Rechtsregeln für den Bereich der Daseinsvorsorge. Insbesondere zu nennen ist die Auseinandersetzung um die sogenannten Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse, die in anderen Mitgliedstaaten, so etwa in Frankreich, seit Jahren öffentlich auf hohem Niveau geführt wird, in der Bundesrepublik aber trotz ihrer enormen Bedeutung nach wie vor nur von einem kleinen Kreis thematisiert und diskutiert wird.
Ein wesentlicher Bestandteil der europapolitischen Arbeit der Linksfraktion wird die Erarbeitung von linken Positionen zu den derzeit diskutierten Themen hinsichtlich einer abermaligen Erweiterung der Europäischen Union sein. Zu diesen zentralen, in der Öffentlichkeit debattierten, Themen darf die Linksfraktion nicht schweigen. Die Debatten um den EU-Beitritt der Türkei und um die Aufnahme Bulgariens, Rumäniens, Kroatiens sowie weiterer Länder des Balkanraums und Osteuropas (Ukraine etc.) erfordern eine differenzierte Positionierung, die die Chancen und Risiken einer weiteren Ausdehnung der EU gleichermaßen in den Blick nimmt. Gerade differenzierte Meinungsbildungen der Linkspartei müssen sich hierbei uU auch gegen mediale Meinungsdiktate stemmen, sich auch und besonders vom rotgrünen Mainstream, wo dies sozialistisch geboten ist, deutlich absetzen. Hinsichtlich der Diskussion um einen EU-Beitritt der Türkei sollte die Linksfraktion eine Position entwickeln, die die geostrategischen und menschenrechtlichen Aspekte deutlich thematisiert und sich gleichzeitig unzweideutig von der rassistischen Stimmungsmache der Unionsparteien im Wahlkampf distanziert. Die unmittelbaren Verbündeten in dieser Auseinandersetzung sind die in der Türkei und anderen potenziellen Beitrittsländern existierenden progressiven Kräfte sowie die bereits in Deutschland lebenden Migrantinnen und Migranten aus diesen Ländern. Nur wenn es gelingt, eine Diskussion anzustoßen, die die linken und demokratischen Kräfte in den potenziellen Beitrittsländern nicht vor den Kopf stößt, sondern aktiv einbezieht, und dies nachhaltig mit den gewerkschaftlichen wie mehrheitlichen Interessen der lohn- und kapitalabhängigen Bevölkerung hierzulande verknüpft, können die reaktionären Elemente in der Erweiterungsdebatte zurückgedrängt werden und gesamteuropäische Perspektiven auf der Linken entwickelt werden. 
Ein weiterer, wichtiger Bereich der künftigen europapolitischen Arbeit der Linksfraktion wird der Kampf gegen den fortschreitenden Abbau von Bürgerrechten sein, der seit einigen Jahren mit der pauschalen Begründung des Kampfes gegen den Terrorismus betrieben wird. Die Linksfraktion wird sich notwendigen Massnahmen, die der Sicherheit der Bevölkerung vor Anschlägen dienen, nicht verweigern. Der darüber hinaus gehende, massive Abbau von Bürgerrechten und die fortschreitende Zurückdrängung des Datenschutzes (etwa bei der Erfassung und Übermittlung von Flugpassagierdaten sowie bei der Einführung neuer Erfassungs- und Identifizierungssysteme, beispielsweise der Implementierung biometrischer Daten in Ausweisen) setzen wir jedoch unseren massiven Widerstand entgegen. Dies gilt sowohl für die Initiativen, die von europäischer Ebene ausgehen als auch für deren Umsetzung auf nationaler Ebene.
Die parlamentarischen Auseinandersetzungen müssen begleitet sein von außerparlamentarischen Aktionen der Gewerkschaften, globalisierungskritischer Organisationen, der Sozialverbände und all jener, die sich hier engagieren wollen. Wir haben unsere parlamentarische Arbeit nicht nur in der Sache qualifiziert zu leisten. Sie ist auch so anzulegen, dass von ihr ein Höchstmaß an Information und Mobilisierungswirkung ausgeht. Insbesondere hinsichtlich der frühzeitigen Aufklärung über europapolitische Zusammenhänge und Initiativen kommt der Linksfraktion eine entscheidende Rolle zu. Im Verbund mit unseren Europaabgeordneten sollte ein regelmäßiger Informationstransfer von der europäischen Ebene in die bundesdeutsche Öffentlichkeit organisiert werden. Hierzu ist mittelfristig ein festes Netz von Bündnispartnern zu etablieren.  
In die ausserparlamentarische Mobilisierung sollte auch der politisch-kulturelle Bereich einbezogen werden: So wäre es äußerst hilfreich, ein Netz von globalisierungskritischen Kulturschaffenden von Chumbawamba, Manu Chaou, Lucio Dalla bis Konstantin Wecker zu etablieren, welches mindestens einmal im Jahr EU-weit zusammenfindet, um auch einem Europa der Gegenkulturen ein neues Gesicht zu verleihen. Eine ähnliche Vernetzungsleistung könnte auch in anderen Bereichen, so etwa bei der Unterstützung von KMU und linken Verbänden, erfolgen.
Neben der Arbeit an den verschiedenen Projekten muss es immer auch um eine Demokratisierung der EU gehen. Dies erfordert auch, die rechtsetzenden Tätigkeiten der einzelstaatlichen Regierungen stärker der Willensbildung der nationalen Parlamente unterzuordnen. Hier müssen die Vorschriften über die Mitwirkung des Bundestags so ausgeweitet werden, dass sie demokratischen Anforderungen entsprechen. Die Wirksamkeit von Vertragsänderungen auf EU-Ebene, auch durch einen etwaigen neuen Anlauf hin zu einem Verfassungsvertrag oder niederschwelligen Surrogaten eines Verfassungsentwurfs, ist durch Grundgesetzänderung von einer Zustimmung durch Volksentscheid abhängig zu machen.
Berlin, 25.10.05
Diether Dehm