[Dieser Text wurde im Deutschlandradio Kultur, Politisches Feuilleton am 14.02.2007 gesendet. Vorgelesen von Diether Dehm.]
Auf der Suche nach Europa in Deutschland
Heimat scheint ein Thema der Rechten zu sein. Aber die Faschisten logen gleich zweimal, als sie sich „Nationalsozialisten“ nannten: sie waren nämlich weder Sozialisten noch national. Wer die Nation in Schutt und Asche legt, wer die besten Bücher der Heimat verbrennt und ihre Autoren vergast, meint es nicht gut mit der Nation. Auch nicht, wer jüdische Erzähl-Meister wie Billy Wilder und Lion Feuchtwanger nach Hollywood vertreibt.
Gibt es ein zärtlicheres und flehenderes Lied an die Heimat als das des jüdischen Poeten Theodor Kramer, als er Österreich verlassen musste:
„Andre, die das Land so sehr nicht liebten
warn von Anfang an gewillt, zu geh’n
Ihnen – manche sind schon fort – ist’s besser
ich doch müsste mit dem eignen Messer
meine Wurzeln aus der Erde drehn“.
Die Linke hat in der Gesichte nur einen Bruchteil – wenngleich unbeholfener – organisiert enteignet, von dem, was Monopolkapital seit Jahrhunderten organisch enteignet. Bis zu jenem gigantischen Enteignungsprogramm aus Hitler, KZs und dem 2. Weltkrieg, was Konzernchefs finanzierten und wovon sie profitierten. Millionenfacher Kleinbesitz floss damit im Monopolkapital zusammen. Die fundamentale Kapitalismuskritik ist darum – neben der Aussöhnung der europäischen Erbfeinde – die zweite, heute medial unterschlagene Leit-Idee nach 1945. In allen wichtigen Parteiprogrammen der Aufbruchszeit, vor allem aber im Grundgesetz steht festgeschrieben: die Gewährleistung von Eigentum nur, soweit es zugleich auch dem Wohl der Allgemeinheit dient. Andernfalls kann es demokratisch enteignet werden, wie Art. 14 des Grundgesetzes festlegt oder in Gemeineigentum überführt, nach Artikel 15. Eine EU ohne diese wenigstens theoretische Chance der Wähler, den Kapitalismus abwählen zu dürfen und ohne die Sozialstaatsgarantie des Grundgesetzes ist eine seelenlose Inszenierung von Eliten und ihren Akzeptanzmanagern.
Auch Roman Herzog hat recht: die Vermischung der Gewaltenteilung von Exekutive und Legislative etwa im EU-Ministerrat, der die Weichen für die mittlerweile 84 % Brüsseler Rechtsakte stellt, die den deutschen Alltag bestimmen, lassen bezweifeln, „ob man die Bundesrepublik noch als parlamentarische Demokratie bezeichnen kann“. Der Altbundespräsident und Verfassungsexperte warnt davor, den gescheiterten EU-Verfassungstext „noch einmal vorzulegen“ Und Ralf Dahrendorf nennt diese EU „eine Kopfgeburt, ein Arrangement ohne interessanten Beitrag zum Sozialen“. So wird Europa ein Bedrohungs- und Willkürszenario für die Mehrheit der Arbeitenden, Landwirte, Arbeitslosen und von monopolkapitalistischer Enteignung bedrohten Klein und Mittelunternehmer.
Wie die Bienen als schäbigen Ersatz für genommenen Honig Zuckerwasser bekommen, so wurden die Enteigneten und in Furcht Ertrinkenden mit Nationalismus besoffen gemacht, der historisch immer der betrügerische Ersatz für die verlorene Heimat war. Die Geschichte des Kapitalismus ist so eine Geschichte der doppelten Enteignung: die von der Arbeitskraft, vom persönlichen Eigentum und die von der Heimat als dem Stück Erde, von dem aus jede und jeder von uns seine ersten Schritte getan.
Nichts, wissen wir von Hegel, geht zu Ende, bevor es nicht seine Bestimmung bis zur Neige ausgekostet hat.
Seinen Endpunkt findet diese Entwurzelung und Verhöhnung der heutigen Menschen im angeblich modernen globalen Neoliberalismus. Er ist weder modern noch neu noch global noch liberal. Er ist modern nicht, weil nichts modern sein kann, was das Geld anstelle des Menschen in den Mittelpunkt stellt. Er ist global nicht, weil nichts global sein kann, was dem Irrglauben nachhängt, irgendetwas könne wurzellos höher wachsen als eine Flechte. Er ist liberal nicht, weil er mit der Benutzung dieses Wortes den großen Traditionen der französischen Revolution Hohn spricht. Er ist so neu wie ein alter Sack, in den dürre Greisenhände gierig Goldstücke klimpern.
Franz-Josef Strauß warf den Linken einst vor, „koi Gfuihl für d’Sach“ zu haben. Heimatlos und ohne Beziehung zum kleinen Eigentum zu sein. Da war etwas dran. Deutsche Linke taten sich mit Heimat schwer und legten ihren Internationalismus oft „antideutsch“ aus. Im Kommunistischen Manifest von 1848 war aber nicht bejubelt, eher beklagt worden, dass „die Arbeiter kein Vaterland“ haben. Weil Wehmut und andere Gefühle „in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt“ werden.
Der Philosoph und Gewerkschafter Manfred Sohn schreibt: „Die ersten Klänge, die der werdende Mensch – noch im Leib seiner Mutter – hört, werden ihn bis zum Tode als Muttersprache begleiten. Die ersten Eindrücke von unserem Globus, die Art der Bäume, die Länge der Tage, die Weite oder Enge des Blicks prägen den heranwachsenden Menschen ebenso bis ans Lebensende, in welche Landstriche ihn immer die wütenden Kämpfe unserer Tage auch treiben mögen. Dort ist seine Heimat und je mehr sie ihm gestohlen, geraubt, entfremdet wird, desto mehr entsteht entweder eine Leere in der Seele oder die Sehnsucht nach dem Verlorenen.“
Wenn die neuere Forschung, etwa im neuen „Spiegel“ die Ernest Gellners, recht hat und Nationalismus nicht aus einer intakten Nation, sondern aus „fundamentalen Krisen und Zerfall“, also aus der Enteignung des Heimatlichen aufsteigt, dann – gute Nacht! – treibt uns die jetzige EU an den Vorabend enormer neuer Nationalismen.
Die Linke und andere Neohumanisten dürfen sich nicht auf dem Scheitern des neoliberalen Verfassungstexts ausruhen. Die linke Fraktion hat zwar im Bundestag Elemente für eine „soziale, freiheitliche, demokratische EU-Verfassung“ vorgelegt. Aber die neue EU geht überhaupt nicht gegen links. Nur, wenn Europa zu einer Verfassung kommt nicht eines neoliberalen Willkür-, sondern demokratischen Rechts und Sozialstaats, können Nationen freundliche und starke Staaten werden, Heimat zurückgegeben und Nationalismus zurück gedrängt.
1972 habe ich als Jungsozialist ein Plakat geklebt. Darauf stand: „Deutsche, wir können wieder stolz sein auf unser Land“ Und auf dem Foto war der vorm Warschauer Mahnmal kniende Willy Brandt. Der Emigrant Brecht schrieb, dass „ein gutes Deutschland blühe, wie ein andres gutes Land“ und sein ebenfalls exilierter Gegenspieler Thomas Mann: „Nichts von dem, was ich Ihnen über Deutschland zu sagen versuchte, kam aus fremdem, kühlem unbeteiligtem Wissen. Ich habe es auch in mir. Ich habe es am eigenen Leibe erfahren.“