An die Kreisverbände DIE LINKE.Niedersachsen
Berlin, am 27. Juli 2007
Liebe Genossinnen und Genossen, Kolleginnen und Kollegen,
beiliegend sende ich euch einen Antrag, den ich gemeinsam mit anderen verfasst habe. Ich reiche ihn gleichzeitig fristgemäß auch für und mit den angeführten Erstunterzeichnern zum Landesparteitag am 8./9. September ein. Uns geht es in erster Linie darum, dass wir bei allen auch in Zukunft weiterhin erfolgreichen Wahlkämpfen und den hoffentlich bald abgeschlossenen technischen Problemen der Parteizusammenführung die inhaltliche Debatte nicht vernachlässigen dürfen. Unmittelbar nach der Landtagswahl sollten wir an der Basis und auf allen Ebenen umso intensiver am theoretischen und praktischen Profil unseres antikapitalistischen Parteiprojekts arbeiten. Dazu liefert die Anlage mit den „Fünf Schwerpunkten“ eine Diskussionsgrundlage, aber keinesfalls ein fertiges Konzept. Mit dem Parteitag im September wird dieses Papier hoffentlich viele solidarisch kritische Veränderungen erfahren.
Bei der Auswahl der Erstunterzeichner habe ich zunächst solche Weggefährten und -gefährtinnen angesprochen, von denen ich weiß, dass sie auch in kontroversen Fragen (klarer Gegnerschaft zum gescheiterten EU-Verfassungstext und seinem Nachfolgevertrag; Ablehnung einer rigiden Trennung von Amt und Mandat etc.) ähnliche Ansichten haben und auch ansonsten weitestgehend mit meinen Überzeugungen übereinstimmen.
Selbstverständlich ist bei der Auswahl der Erstunterzeichner und derjenigen, die an diesem Antrag mitformuliert haben, überwiegend das Prinzip Zufall maßgeblich gewesen. Dies bitte ich zu entschuldigen. Dies ist aber kein Beinbruch, weil bis zum Parteitag und danach weitere Unterstützung und Verbesserung von uns ausdrücklich gewünscht wird. Gleichwohl bitte ich euch, das Papier zu lesen und, soweit das in der Sommerpause und kurz danach noch möglich ist, in euren Kreisverbänden und Ortsgruppen zu diskutieren und entsprechend auch für den Landesparteitag Weichenstellungen zu erwirken.
Mit solidarischen Grüßen
Euer Diether Dehm


Antragsteller:  Diether Dehm, Gisela Ohnesorge (Braunschweig), Marianne König (Osnabrück), Peter Kurbjuweit (Hameln), Rainer Hamann (Northeim), Victor Perli (Bundessprecher Linksjugend ['solid]), Elke Höher(Aurich), Klemens Kowalski (Stade), Dorothée Menzner (Wolfsburg), Manfred Sohn (Peine), Tina Flauger (Delmenhorst), Walter Gruber (Salzgitter), Maja Imlau (Cuxhaven), Jürgen Eggers (Peine), Maren Kaminski (Hannover), Peter Brenner (Hannover), Hans Lehnert (Hannover), Heiko Moll (Aurich), Gerd Nier (Göttingen), Pia Zimmermann (Wolfsburg), Martin Heilemann (Aurich), Kurt Herzog (Lüchow-Dannenberg), Benjamin Boehnke (Stade), Wolfgang Woltemade (Oldenburg), Marlen Stryj (Hannover), Mathias Schwang (Peine), Patrick Humke (Göttingen), Udo Sommerfeld (Braunschweig), Jürgen Lerchner (Wolfsburg), Hinni Albrecht (Aurich), André Owczarek (Wolfenbüttel), Jörn Jan Leidecker (Hannover), Ulrich Wolf (Hannover).
Der Parteitag möge beschließen:
Für eine Strategiedebatte der niedersächsischen Linken
Der Landesverband DIE LINKE.Niedersachsen hat seine Gründung mit Vorausschau und ohne größere formale und statutarische Fehler und in nötigerweise großem Tempo vollzogen. Gleichzeitig hat er Bundestags- und Kommunalwahlkämpfe erfolgreich durchgeführt. Die programmatische Identitätsfindung und theoretische Diskursfähigkeit der neuen Partei sowie die Bildungsarbeit haben gleichwohl darunter gelitten. Hier ist Nachholbedarf entstanden. Im Anhang sind – ohne Anspruch auf Vollständigkeit - mit den „Fünf Schwerpunkten“ besondere Defizitbereiche benannt.
Der neu gewählte Landesvorstand und der Landesausschuss werden darum beauftragt, unverzüglich nach der Landtagswahl auf der Basis der „Fünf Schwerpunkte“ eine Wochenendklausur des Vorstands, eine Landesausschusssitzung sowie Regional- bzw. Kreiskonferenzen und andere Formen der Diskussion an der Basis durchzuführen, in die auch andere Dokumente der beginnenden bundesweiten programmatischen Debatte einbezogen werden. Daraus resultierende Änderungen und Überarbeitungen sind dann als „Grundsatz- und Strategiepapier“ im Jahre 2008 dem Landesparteitag vorzulegen.
Siehe Anlage “Fünf Schwerpunkte“
ANLAGE „Fünf Schwerpunkte“
I. Grundgesetz-Partei in Tradition der Arbeiterbewegung
DIE LINKE. Niedersachsen entstand mehrheitlich (ähnlich wie andere Landesverbände im Westen) aus unterschiedlichen sozialistischen, sozialdemokratischen und kommunistischen Traditionen. Während die PDS in den 16 Jahren ihres Bestehens sich hart und schmerzhaft mit Traditionen wie dem Stalinismus und anderen bürokratischen Formen der Arbeiterbewegung auseinandersetzen musste, konnte die Aufarbeitungsphase der WASG wesentlich kürzer verlaufen, da sie im Wesentlichen auf eine kritische und selbstkritische Reflexion der gewerkschaftlichen und sozialdemokratischen Politik begrenzt war, die in der bundesdeutschen PDS nur eine untergeordnete Rolle gespielt hatte.
Mit der Vereinigung der Parteien haben beide einander ihr Gepäck und ihren Ballast vererbt, womit eine Chance entstanden ist, auch die „Dissidenten der Arbeiterbewegung“, die von SPD- und KP-Führungen „untergepflügten“ und vergessenen Intellektuellen, Funktionsträger und Philosophen wieder zu entdecken und ihre Antworten für die Fragen der Zukunft in die entsprechenden Diskurse einzubringen. Die Spaltung der Arbeiterbewegung von 1914, die im Wesentlichen die Spaltung der II. Internationale durch den 1. Weltkrieg in vorgeblich eine kommunistische und eine sozialdemokratische Linie war, gibt uns die Möglichkeit, auf einem höheren historischen Niveau, Gespaltenes wieder in Grundsätzen zusammenzudenken und in der Praxis zusammenzutun. Das, was August Bebel karikierte, als er sagte, die Linke zerfiele in unpraktische Sozialisten und unsozialistische Pragmatiker, kann in der Linken zu einer neuen fruchtbaren Verbindung von linksreformerischer Alltagsarbeit und perspektivisch sozialistischem Systemumbruch werden, die nicht mehr gegen- und nebeneinander, sondern integriert gedacht und gemacht werden.
Viele dissidente Denker der internationalen Arbeiterbewegung können uns helfen. Rosa Luxemburg, Bertolt Brecht, Che Guevara, um drei große Internationalisten zu nennen, Viktor Agartz, den einstigen Vordenker des DGB nicht zu vergessen. Es gilt aber auch, Wolfgang Abendroth neu zu entdecken, den großen Grenzgänger zwischen Sozialdemokratie und Kommunismus, der die deutsche Linke lehrte, die Optionen des Grundgesetzes mit ihrer sozialistischen Sache zu verbinden.
Wenn die FDP jetzt den Artikel 15 des Grundgesetzes streichen will (wie ihr aktueller Bundestagsantrag sagt), wenn die SPD und die Grünen völkerrechtswidrige Kriege unterstützen, die auch gegen das Angriffskriegsverbot des Grundgesetzes verstoßen, wenn bisherige Koalitionen allesamt dazu beigetragen haben, das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes auszuhöhlen, dann ist die LINKE in all diesen Parametern mit Fug und Recht als die einzige Partei des Grundgesetzes zu benennen. In diesem Sinne wollen wir in Niedersachsen Politik machen. Der demokratische Rechtsstaat und die Gewaltenteilung, die im gescheiterten EU-Verfassungstext mit Füßen getreten werden und in der bisherigen Verfasstheit der EU weit hinter den Ansprüchen unseres Grundgesetzes zurückbleiben, das Friedensgebot und die Sozialbindung des Eigentums (Artikel 14) werden darum von uns um so offensiver vertreten. Wolfgang Abendroth, Helmuth Ridder, Heinrich Hannover u.v.a. haben uns oft ebenso Konkretes zu sagen wie sozialistische Klassiker.
Die Partei Die LINKE will aus den zentralen Imperativen des Grundgesetzes gesellschaftliche Bewegung machen, so das Grundgesetz aus einem Kanon toter Buchstaben wecken. Demokratischer ziviler Ungehorsam gegen antidemokratische Gesetze oder staatliche Übergriffe, wie beim „G8-Gegengipfel“, hat unsere solidarische Unterstützung. Die Linke weiß, dass soziale Bewegungen, außerparlamentarischer Druck, dass Streiks und Massendemonstrationen die Voraussetzung sind, erfolgreich in Parlamenten auf allen ihren Ebenen zu arbeiten. Deswegen bekennt sich unser Landesverband auch zu einer strategischen Orientierung auf die real existierende Arbeiterbewegung, die nun einmal in Einheitsgewerkschaften verfasst ist.
Ohne engen Stoffwechsel mit den Betroffenen der Agenda 2010, von Hartz IV, der Friedens- und Umweltbewegung können wir nicht stärker werden und würden zurückfallen in den früheren Krebsgang vor 2005. Dies gilt vor und nach Wahlen. Die Dominanz in der Politikgestaltung liegt bei der Partei. (Die erheblichen Zuwächse der Sozialistischen Partei in den Niederlanden ergänzen hierzu unsere eigenen guten Erfahrungen. Siehe unter wikipedia: Socialistische_Partij)
Parlamentarische Funktionen sind demokratisch an Parteitagsbeschlüsse zu binden. Wir wollen kein starres imperatives Mandat. Wer vor seiner Nominierung ihren/seinen abweichenden Standpunkt offen macht und dennoch gewählt wird, hat eine andere Legitimität, als die, die vorher anderes versprechen als sie dann in Parlament und Regierung vertreten. Wir wollen auch nicht die rigide dogmatische Trennung von Amt und Mandat, was bei den Grünen zunächst zur Trennung der Fraktion von der Partei und schließlich in deren Unterwerfung führte. Wir wollen die sinnvolle Verzahnung von Amt und Mandat mit einer klaren Priorität bei der Partei und ihrer demokratischen Willensbildung – auch als Spiegel gesellschaftlicher Bewegungen. Wir wollen verhindern, dass aus Partei Apparat wird, Regierungsbeteiligte und Abgeordnete aller Ebenen mit ihren bezahlten Mitarbeiter/innen die Parteiorgane dominieren. Dafür muss es Begrenzungen geben.
II. Solidarität – vor Ort und international
Die Verbindlichkeit von Parteibeschlüssen hängt eng mit der Wiedererkennbarkeit unserer Partei bei den Wählerinnen und Wählern zusammen, die schon so oft von den „Hartz-Parteien“ betrogen und enttäuscht wurden. Wer vor seiner Nominierung und Wahl anderes sagt als er nach seiner Wahl realisiert, wird die Unterstützung des Niedersächsischen Landesverbandes nicht erhalten. In diesem Zusammenhang erinnern wir an unsere Beschlüsse:
Die LINKE möchte eine völlig neue EU-Verfassung. Sie ist mittlerweile die einzige Kraft in Deutschland, die eine Verfassung möchte – und zwar durch eine Volksabstimmung – als gleichsam einzig legitimierende Basis. Der gescheiterte Verfassungsentwurf der Herrschenden mit seinen beiden zentralen Elementen „unverfälschter Wettbewerb“ und Europa als nachgebaute USA und Interventionsmacht wird von uns abgelehnt. Ebenso der von der Bundeskanzlerin „EU-Reformvertrag“ getaufte Text, der dieselbe Substanz hat wie der gescheiterte Verfassungstext. Dies sind unsere Parteitagsbeschlüsse. Wer dagegen ganz oder teilweise verstößt, kann mit der Unterstützung des Landesverbandes Niedersachsen bei der Nominierung zur Europawahl nicht rechnen.
Die LINKE in Niedersachsen vertritt entschieden die Position des Privatisierungsstopps und der Rekommunalisierung. Wer in zentralen strategischen Eigentumsfragen - besonders im Bereich der Daseinsvorsorge wie des Wohnens, der Krankenhäuser und der Energieversorgung - teilweise oder ganz Positionen vertritt, die unseren Versprechen an die Wählerinnen und Wähler entgegenstehen, kann auf unsere Stimmen innerparteilich nicht rechnen. Mit Unterstützung des Niedersächsischen Landesverbands kann es auch kein Aushebeln gewerkschaftlicher Grundpositionen (z. B. feste Ladenschlusszeiten) geben.
Die LINKE in Niedersachsen lehnt völkerrechtswidrige Kriege und Auslandseinsätze der Bundeswehr ab. Auch dieser Beschluss ist für uns und die von uns unterstützten Mandatsträger verbindlich.
Die LINKE in Niedersachsen ist eine Kraft der antiimperialistischen Solidarität. Wir müssen uns nicht mit jedem Schritt in jedem Land, das demokratisch gegen die turbokapitalistische Globalisierung des IWF und der WTO opponiert, identifizieren. Hingegen müssen wir solidarisch sein gegen die Repressalien der US-Regierung. Zwischen Identifizierung und Solidarität kann es Unterschiede geben. Der ungeheure Aufbruch eines antiimperialistischen Lateinamerika in Venezuela, Bolivien, Argentinien, und vielen anderen Ländern hängt eng damit zusammen, dass Kuba über viele Jahrzehnte gezeigt hat: Eine andere Politik als die des US-dominierten Casino-Kapitalismus ist nicht immer schön, aber möglich. Der US-Wirtschaftskrieg, die Blockade der Häfen gegen Kuba, die Inhaftierung der „Miami-Five“ usw. werden überall auf der Welt bekämpft – und dies zu Recht! Ein Imperialismus, der bürgerliche gegen soziale Menschenrechte ausspielt und Menschenrechte nur noch zum phrasenhaften Vorwand von Militärintervention macht, ist und bleibt unser Gegner.
Ausweisung und ähnliche Strafen zur „Erzwingung“ der Integration von Migrantinnen/ten lehnen wir grundsätzlich ab, zumal, weil diskriminierungsfreie, sozial gerechte staatliche Angebote – etwa zum Spracherwerb – nicht vorliegen und ein angstarmes Leben für Menschen aus Einwanderungs-Zusammenhängen noch weit entfernt ist. Der von CDU und SPD 1993 zerstörte grundgesetzliche Individual-Anspruch auf politisches Asyl muss wieder hergestellt werden.
Wir unterstützen insgesamt eine Politik, die realistisch auf den Gleichklang der individuellen Freiheitsrechte mit den sozialen Menschenrechten zielt.
III. Demokratie heißt Pluralität und Verbindlichkeit
Die LINKE legt mit der Abkehr von engstirnigen und dogmatischen Traditionen großen Wert auf eine neue Pluralität. Relevante demokratische Andersdenkende werden nicht nolens volens toleriert, sondern sind als wichtige Evokation gegen allzu große Selbstgefälligkeit gefordert. Nur wer Widersprüche demokratisch auszutragen in der Lage ist, kann ein Frühwarnsystem für gesellschaftliche Erschütterungen erarbeiten.
Der Umgang unter uns Linken war nicht nur von Spaltung geprägt, der politische Differenzen zugrunde lagen – etwa darüber, mehr oder weniger scharf kapitalistische Eigentumsverhältnisse anzugreifen – sondern auch von persönlicher Zanksucht. Gesellschaftliche Defizite einzelner Personen wurden auf dem Rücken der Organisation kompensiert, Komplexe ausgelebt und Streit somit oftmals sinnlos zugespitzt. Leitungsfunktionen der Linken sollten auch nach den Kriterien gewählt werden, ob die sich Bewerbenden Geduld und andere Fähigkeiten haben, zu schlichten, den Weg in die Gerichtsbarkeit durch Elemente der „brechtschen Freundlichkeit“ auszubremsen und Wege zu finden, den anderen im Streit mit seinen verletzten Augen zu sehen. Dabei sind wir keine Vereinigung von Pharisäerinnen und Pharisäern. Wir fallen weder hinter die bürgerliche Rechtsstaatlichkeit zurück, noch sind wir deren 200%ige Exekutoren. Auch für Linke gilt der Grundsatz der Unschuldsvermutung. Wer nicht rechtskräftig verurteilt ist, hat für uns als unschuldig zu gelten. Gerede wie: „Er mag ja unschuldig sein, aber die Medien haben ihn/sie verurteilt; jetzt wird er/sie für uns eine Belastung im Wahlkampf", macht uns zum Selbstbedienungsladen der kapitalorientierten Medien. Von außen Genossinnen und Genossen zu „heißen Kartoffeln“ zu machen, die fallen gelassen werden, entsolidarisiert eine Linke, deren wichtige Mitstreiterinnen nicht immer auch Medienlieblinge sein müssen. Auch hiergegen ist Widerstand vonnöten. Gerüchtemacherei – und das gilt für sämtliche Arten von Delikten- – ersetzt nicht die aufwendige und gründliche Urteilsbildung.
Auch, wenn wir unsere Funktionsträger demokratisch an die Beschlüsse der Partei binden, so hat das nichts damit zu tun, dass nicht eine breite Diskussion unterschiedlicher linker Standpunkte von uns ausdrücklich gewünscht wird. Rosa Luxemburg hat das nötige dazu gesagt: „Freiheit in der Diskussion, Einheit in der Aktion!“ Wer nicht Freiheit in der Diskussion gewährt, hat keinen Anspruch auf die Einheit in der Aktion. Anders herum aber heißt das auch: Wer die Freiheit in der Diskussion hatte, Zugang zu allen Wissensquellen und ausgiebige Redezeit, sollte anschließend Mehrheitsbeschlüsse akzeptieren und in der Aktion einheitlich operieren. Die unterschiedliche Herkunft aus sozialdemokratischen Quellen, aus kommunistischen, linkssozialistischen und anderen undogmatischen Positionen, sind für uns nicht das Kriterium, Andersdenkende abzustempeln!
Wichtig ist die gemeinsame Zukunft, nicht die getrennte Vergangenheit.
IV. Mit Weitsicht wirtschaften lernen!
Sozialistische Wirtschaftspolitik unter den Bedingungen des gegenwärtigen Kapitalismus muss kurz- und mittelfristig auf zwei Ziele gerichtet sein.
Einmal ist durch staatliche Wirtschaftspolitik zu einem qualitativen ökologisch vernünftigen Wirtschaftswachstum und zur Schaffung menschenwürdiger und auskömmlich entlohnter Arbeitsplätze beizutragen. Das bedarf einer grundsätzlichen Änderung der Geld- und Währungspolitik, die nicht dogmatisch allein auf Geldwertstabilität ausgerichtet ist, das bedarf öffentlicher Investitionen und staatlicher wie kommunaler Programme zur Stabilisierung der Konjunktur wie zur Förderung strukturell benachteiligter Regionen und Sektoren. Eine solche Politik erfordert auch wesentliche Änderungen auf der Ebene der Europäischen Union: Der Stabilitätspakt und die Politik der Europäischen Zentralbank (EZB), die einseitig auf Geldwert- und Währungsstabilität ausgerichtet sind, müssen reformiert werden.
Zum anderen muss sie dafür sorgen, dass wirtschaftliche Macht begrenzt und, wo vorhanden, demokratisch kontrolliert wird. Das erfordert staatliche Regulierung nach dem Grundsatz: „Zwischen dem Starken und dem Schwachen befreit das Gesetz, während die Freiheit unterdrückt.“ (Rousseau) Zugleich muss auch die Demokratie am Arbeitplatz, im Betrieb, Unternehmen und in der Gesamtwirtschaft ausgebaut werden. Auch hier müssen entgegenstehende Festlegungen im EU-Recht geändert werden; Es darf Unternehmen nicht erlaubt werden, in weniger demokratische Unternehmensverfassungen anderer Mitgliedsstaaten auszuweichen.
Bei aller Entschiedenheit, mit der wir diese doppelte Reformpolitik betreiben, handeln wir im Wissen, dass die genannten Ziele vollständig und umfassend nicht im Rahmen der kapitalistischen Wirtschaftsweise verwirklicht werden können. Dazu brauchen wir einen Systemwechsel hin zu einer neuen Form des Wirtschaftens, die den Grundsätzen des demokratischen Sozialismus entspricht. Wir sind uns zugleich aber dessen bewusst, dass wir in eine Situation, in der wir die Systemfrage nicht nur stellen, sondern erfolgreich beantworten können, nur kommen, wenn wir eine aktive Reformpolitik erfolgreich betrieben haben und bei allen Erfolgen deren Begrenztheit und die Notwendigkeit weitergehender Veränderungen deutlich machen.
Gerade in Niedersachsen haben wir die besondere Herausforderung, kleine und mittlere Unternehmen positiv in unsere Strategie einzubinden. Ihre Interessengegensätze als Zulieferer und Reparaturhandwerk usw. gegenüber Konzernen und Großbanken sind dabei gegen den Zeitgeist der herrschenden Wirtschaftspropaganda herauszuarbeiten und zu verbreiten. Forderungen wie die Filialbesteuerung, Wertschöpfungsabgabe und punktuelle Mehrwertsteuersenkungen sind neben dem generellen Ansatz der Steigerung von Binnenkaufkraft gemeinsame Schnittmengen zwischen Gewerkschaften und kleinen und mittleren Unternehmen.
V. Ohne Kulturarbeit keine linke Hegemonie
Kulturarbeit ist kein Beiwerk zu einer eigentlich spröden Parteiroutine. Als wir beim Vereinigungsparteitag am 16. Juni 20007 Werner Schneyder, Frank Castorf, Peter Sodann und Konstantin Wecker erleben durften, haben wir gespürt: Dies war schon ein wesentlicher Teil unserer großartigen Außenwirkung. Viele waren erinnert an die zentrale Bundestagswahlveranstaltung in Hannover 2005, bei der neben Oskar Lafontaine auch Konstantin Wecker, Peter Sodann, Chumbawamba und viele andere auch weniger bekannte Künstler auftraten. Ohne dieses Programmangebot wären sicher nicht 7.000 Menschen gekommen – nur 3000 weniger als der damalige Bundeskanzler in seiner Heimatstadt drei Tage zuvor am selben Platz begrüßen konnte. Mit Kultur kann sich Erfolg früher künden, kann Klima so verändert werden, dass später eine andere Politik auch institutionell möglich wird. Dies jedenfalls meinte der italienische Kommunist Antonio Gramsci mit seinem Begriff der „kulturellen Hegemonie“, die als Meinungsführerschaft einer linken Regierungsbeteiligung stets vorausgehen muss. Weil wir davon noch weit entfernt sind, muss auch die Linke eigene Kälte überwinden. Sie analysiert, zankt und malt zuviel in Elend, wo auch gefeiert, gemeinsam getrauert, wo auch mit künstlerischen Mitteln Geborgenheit und Herzenswärme ausgestrahlt werden sollte. Unsere Zusammenkünfte sind noch viel zu formal-routine-fixiert, zu hinterzimmergeprägt und zu wenig auf den „Zoon politikon“ – den ganzen Menschen („von Fuß bis Kopf über Unterleib“) ausgerichtet, das wichtiger ist, als alle Klarsichtfolien, Satzungsstreitereien und Ordnungsfetische.
Warum planen wir nicht ein, dass immer zu Beginn jeglicher Sitzung zunächst die aktuelle Lage oder ein grundsätzliches politisches Thema steht, das jemand aus unserer Mitte aufbereitet? Warum schließen wir nicht stets mit einem Gedicht oder Liedern? Warum hat nicht jeder Kreisvorstand eine/n „Referentin für Kulturarbeit“? Dies sind alles Fragen, die nicht von oben beantwortet werden können.
Aber in jedem Falle gilt: Wenn wir nicht wollen, dass bei den Neumitgliedschaften der von der SPD bekannte „Drehtüreffekt“ eintritt, müssen wir das kulturelle Gepräge unserer Sitzungen radikal verändern! Sonst werden nicht aus Neumitgliedern neue Mitglieder, sondern bald wieder neue Austritte. Und auch unsere „Alt“-Mitglieder haben oft mehr Aufmerksamkeit verdient, was arbeitnehmer- und familienfreundliche Zeit, körperfreundliche Umgebung und Aufmerksamkeit stimulierenden Ablauf unserer Veranstaltungen anbetrifft. Für viele ist eine Kreissitzung etwas Seltenes, auf das sie sich freuen wollen. Summa summarum: Kulturarbeit ist für eine Partei außerparlamentarischer Bewegungen ein nicht zu vernachlässigendes Lebenselixier.