Sechs Thesen zur Regierungsbeteiligung der Arbeiterbewegung

Dieses Referat hat Diether Dehm auf der Landesvorstandssitzung am 2. September 2007 gehalten.
Die Veröffentlichung hier ist die Umsetzung eines auf die Diskussion dieser Thesen folgenden Beschlusses des Landesvorstands, dieses zunächst interne Papier nunmehr öffentlich in der Partei zu diskutieren. Ihr seid also herzlich eingeladen.


I.Differenzen zur Regierungsbeteiligung chiffrieren Grundströmungen
Die Frage der Regierungsbeteiligung wird in derartiger Verbissenheit diskutiert, weil sie die Frage des gesellschaftlichen und strategischen Entwurfs chiffriert. Sicherlich: Kein Reformist in einer sozialistischen Partei unterstellt seinem revolutionären Genossen in der Linken, den Bruch mit dem Kapitalismus um 24 Uhr mit einem Sturm aufs Winterpalais vollziehen zu wollen, um dann um 0 Uhr den Sozialismus einzuläuten. Es gibt antimonopolistische Übergangsphasen, die lange dauern können, und der eine große Bruch mit der Kapitalvergangenheit kann in mehrere Brüche aufgeteilt sein. Aber: es geht nie ohne Brüche.

Kein Marxist unterstellt vice versa der Mehrheit der starken Strömungen der Reformisten in der Arbeiterbewegung heute, dass sie bewusst, wie Noske, gegen eine revolutionäre Strategie wäre, dass sie sich militant gegen eine bruchintensive Überwindung des kapitalistischen Systems wenden würde. So etwas ist die Sache von Agenten, die es wahrscheinlich auch in unseren Reihen gibt, nicht aber von Genossinnen und Genossen. Das Phänomen des Reformismus in der Arbeiterbewegung, also der Überhöhung der Erfolgserwartungen gegenüber Reformen im Kapitalismus, zeichnet sich vielmehr durch mehr oder weniger Unentschlossenheit gegenüber einem wirklichen Bruch mit dem System durch demokratische Mehrheiten in klassen- und selbstbewusster Bewegung aus, bzw. durch Nichtbefassung mit einer demokratisch-revolutionären Strategie (etwa nach dem Scheitern der chilenischen Variante).

Kein reformistischer Sozialist beharrt darauf, bewusst und ausschließlich nur kleine reformistische Verbesserungen am und im Kapitalismus durchzuführen. Die einen Reformisten bezweifeln aber grundsätzlich, dass Massen bewusst mit dem Kapitalismus brechen wollen und können. Sie sagen darum, es müsse trotz der Lethargie doch etwas Glück der Massen auch hinter ihrem Rücken eingefädelt werden. Gleichzeitig spüren sie auch die Annehmlichkeiten ihres eigenen Lebens als offizielle parlamentarische Interessenvertreter der lethargischen Massen. Sie würden sich wahrscheinlich für den Fall der Revolution auch wieder nicht von vornherein auf die Seite der Konterrevolution stellen. Aber weder passt eine revolutionäre Selbsttätigkeit in ihr Gesellschaftsbild noch in ihre Lebensplanung. Und viele von ihnen haben auch eine andere soziale Frage zu lösen: ihre eigene.

Die anderen, linkeren Reformisten halten eine Überwindung des Kapitalismus eigentlich für nötig – auch notfalls mit Brüchen – aber diese muss von irgendwoher kommen – einem Ort und einem Subjekt, was sie weder selbst sind noch kennen. Sie selbst sehen und haben jedenfalls keine Strategie dorthin. Und für diesen (vermeintlich unverschuldeten) Fall von Nichtüberwindung des Kapitalismus wollen sie nicht mit leeren Händen dastehen. In Ermangelung eines realrevolutionären Subjekts wollen sie wenigstens ein paar Reformen mit durchgesetzt haben.

Wer hingegen im demokratischen Bruch mit dem Kapitalismus den eigentlichen Anbeginn der modernen Zivilisationsgeschichte sieht, findet diesen letztgenannten Reformismus sympathischer als den erstgenannten, weil er zur revolutionären Strategie ein offenes Verhältnis wahrt.

Wir wollen also in der Arbeiterbewegung drei Strömungen grob unterscheiden, gleichgültig wie immer sie sich selbst bezeichnen:
die rechte reformistische (weil feinfühlig innerlinke Abwehr einer revolutionären Strategie)
die linksreformistische(mit Duldung revolutionärer wie konterrevolutionärer Strömungen in der Linken)
die demokratischen Revolutionäre (mit einer konkreten Arbeit auch an einer Strategie, die zu Bruch mit dem Kapitalismus führt).
(Selbstverständlich ist auch die revolutionäre Position differenzierter; allerdings: wer nicht konsequent an einer demokratischen, also machbaren Strategie zur revolutionären Überwindung des Imperialismus arbeitet und eine solche bewusst ins Auge nicht fasst, mag dies mit sektiererisch-putschistischen Phrasen garnieren, er wird immer mit dem Reformismus beider Spielarten austauschbar bleiben.) Der linkssektiererische Putschismus und der rechte Reformismus gehen im übrigen beide von der Lethargie der Mehrheiten als fixierter Größe aus, deren Faktor sie dann oft selbst sind. Ob Baroso, Fischer oder viele Minister im EU-Europa: Sie kommen aus maoistischen, trotzkistischen oder anarchistischen Zusammenhängen – und brauchten ihre Verachtung der Bevölkerungsmehrheit bei ihrer Konversion nicht abzulegen.
Rechter Reformismus speiste sich auch oft genug aus linksputschistischem Sektierertum - meist auf gemeinsamer Grundlage eines modernisierten zynisch-geläuterten Antikommunismus und Konvertitentums.

Demokratisch-revolutionär ist hingegen nur eine Strategie, die zusammen mit den realexistierenden Massen eines vorgegebenen Raums die erkannten Schwachstellen des gegnerischen Systems ausnutzt, um dessen Potenziale in bruchhaften Schritten zu vergesellschaften. (Da das Linkssektierertum sich dadurch auszeichnet, dass es sich nicht direkt an die Massen in der Partei oder Bevölkerung wendet, sondern nur auf die linksinterne Abgeschiedenheit der Hinterzimmer orientiert, um dort die „linke“ Messlatte und die radikale Rhetorik immer höher zu schrauben, verzichten wir darauf, die Linkssektierer als bedeutende eigene Strömung zu bezeichnen).


II.Bewegung ist ausschlaggebend – auch beim Bejahen oder Verweigern von Mitregieren

Sektierer und Rechtsreformisten überhöhen beide – wenn auch in entgegengesetzter Intention – die Optionen der angeblichen Machtbeteiligung und die Privilegien, zunächst soweit diese Privilegien abzurechnen sind.(z. B. Diäten, kostenlose Beteiligung an staatlichen Serviceleistungen, Besuch staatlicher Einrichtungen, Mitarbeiterstab und materielle Einflussnahme auf Parteiendemokratie).

Die einen tun so, als sei mit ihrer Verwaltungsteilhabe das in einer (ewig-kapitalistischen!) schlechten Kräftekonstellation Äußerste erreicht, die anderen sagen, Regierungsbeteiligung bewirke unausweichlich Ankettung an das System und sei nur mit Nachteilen für die Unterdrückten verbunden.

Beide haben ein gleichermaßen mystisches Verhältnis zu den nicht-abrechenbaren, symbolisch-subtilen Privilegien des Mächtigkeitsambientes, (wie Treffen mit wichtigen Menschen, persönliche Handschrift bei der Gestaltung von Verwaltungsabläufen, Abruf gesellschaftlicher Verbeugungen, parasexuelle Unterwerfungen in der Öffentlichkeit und durch Adelstitel parlamentarischer Art käufliche Zuneigungseinheiten – ähnlich  denen mittelständischer Funktionen u. ä.). Die begünstigten Rechtsreformisten dürfen über diese Art von Erfreulichkeiten in ihrem Leben nicht offen reden, um nicht Eifersucht auszulösen und sich so den Zugang zu den Privilegien mit Neid zu verbauen. Die anderen wollen – eben gerade von Neid getrieben, also aus zutiefst unstrategischen Motiven! - nur über diese kleinen Privilegien in den eigenen, erreichbaren Reihen reden als eigentlichen Sündenfall und Quell opportunistischer und karrieristischer Zerstörung der Linken von innen. Sie stellen die Begünstigten mit einer Vehemenz an den Pranger, als seien diese die Verursacher von Militarismus und Sozialkahlschlag.

Sie ziehen beide nicht nur keine Verbindung von diesen partizipativen Verwaltungsfunktionen zur eigentlichen Macht, zum Imperialismus, sondern setzen diese an die Stelle von jedem irgendwie ahnbaren Privileg. Das eigene Parteimitglied wird zum Feind, weil man es vor der Flinte hat, während der Hauptfeind weitgehend in Aufsichtsräten anonymisiert ist.

Hassgeladene Fixierung der Linkssektierer gegen jede Privilegierung eigener Genossen(= antithetische Fesselung, oft aber auch nur verstellter Neid) verhindert ebenso wie die unterwürfige Fesselung der Rechtsreformisten aber somit jede Operationalisierung der parlamentarischen Privilegien im Klassenkampf. Beide Strömungen werden dabei – meist ungewollt – auch die Konstituanten der Massenlethargie, von der beide als fester Größe ausgehen. Beide werden so Teil des Problems des Fehlens einer demokratisch-revolutionären, also realistischen Strategie im medial-parlamentaristischen Kapitalsystem.

Charakteristisch im obigen Sinne ist Harald Wolfs Interview in der Berliner Morgenpost vom 1. August 2007, in der er als Fortschrittsparameter von Koalitionen die jetzige Große Koalition anpreist, weil sie den „Investitionsstau in den Unternehmen“ überwunden habe. In diesem Sinne empfiehlt Wolf noch mehr Landeregierungsbeteiligungen. André Brie hatte zum gleichen Zeitpunkt im „Spiegel“ eine innerparteiliche Opposition gegen Oskar Lafontaine und Ulrich Maurer herbeigewünscht, um die Abgrenzung zur SPD zu schleifen.

In einem außerordentlich lesenswerten Gegenartikel antwortet Sascha Kimpel von der SL Berlin, am 6. August. Seine kluge Einschätzung, wie: „Der Spiegel“ & Co. letztendlich über Wolf, Brie u. ä. die ideologische Verfügungsmacht über DIE LINKE antreten wollen (wie bereits erfolgreich über 20 Jahre in Bezug auf SPD-Halblinke und Realo-Grüne), gipfelt in der Behauptung, die Beteiligung an Landesregierungen führe eo ipso „zur Übernahme liberaler Politikvorstellungen …, die rein auf bessere Verwaltung des Kapitalismus abzielen“.
Damit aber gibt es bei Kimpel keine Unterschiede in verschiedener linker Regierungspraxis mehr. So dürfte auch einer internationalen Verallgemeinerung gegen Allende, Morales, Chavez, Ortega, Kirchner das generalisierende Wort gesprochen sein. Damit wäre aber auch den Schröders, D’Alemas, Wolfs usw. ein perfekter Persilschein geliefert, wonach keine Regierungspraxis mehr immanent kritisch bewertet und nach links verschoben werden kann, weil Mitregierende sowieso gar nicht anders können, als „neoliberal“. Objektiv stimmen also Kimpel und Wolf darin überein, dass linke Mitregierung nichts für die Überwindung des Systems beitragen kann. Demzufolge darf auch einem Mitregierenden Linken nur noch der Eintritt in die Regierung, aber nicht mehr seine Praxen vorgeworfen werden. Warum aber z. B die Mecklenburg-Vorpommern-PDS gegen die und die Berliner PDS zugunsten der gescheiterten neoliberalen EU-Verfassung votiert hatte, würde mit diesem pauschalierenden Ansatz nicht nachvollziehbar.


III.Auch Marxismus benötigt realistische regierungsbezogene Strategieansätze

Eine realistische Strategie bezieht im marxistischen Sinne die parlamentarischen Optionen und die der Regierungsbeteiligung in die demokratisch-revolutionäre Strategie mit ein. (Ein Regierungsmitglied mit Titel, Öffentlichkeit und Apparat vermag bei einem Streik oder einer Rekommunalisierungsdemo die Ängstlicheren zu ermutigen usw. – muss dies aber auch tun!)

Das Parlament sei eine Tribüne des Klassenkampfs, damit umschrieb Lenin aber nur eine Funktion, denn damit dient sie nur der Publikation, als passiver Spiegel, aber wenig als Antriebsmotor gesellschaftlicher Veränderungen. Der Leninismus und seine tendenzielle Verachtung des Parlamentarischen entstammt dem Logarithmus seines Entstehens: der Überhöhung der Bedingungen des paramilitärischen Bürgerkriegs. Wir verdanken Wolfgang Fritz Haug und Sabine Kebir hier wesentlich neue Erkenntnisse: mit dem Gramsci-Diskurs erhält die Konzeption der demokratischen Revolution endlich eine neue, eine „westliche“ Komponente unter Bedingung des weniger paramilitärisch, als subtil-medialen „Bürgerkriegs“: die Parlamentsarbeit kann zur Erprobung von Führungstalenten und neuen Techniken gegenüber einzelnen Staatsfunktionen bereits unter der Klassendiktatur des Großkapitals werden. Im übrigen ist jeder Revolution eine Erprobung von Führungsqualitäten in Bündnissen(!, also in Formen des Mitregierens mit anderen) im Schoße der alten Klassenherrschaft vorausgegangen.

Dennoch: eine Regierung, die keine tragenden Privilegien des Großkapitals vergesellschaftet, bleibt eine kapitalorientierte Regierung. Ein Mittelding in Staatsfunktionen gibt es nicht, bestenfalls ein Weichen-Umstellen. Wobei es allerdings für die Arbeiterbewegung nie egal war, welche Kapitalfraktion wie regiert hat. Eine entfaltete demokratisch-bürgerliche Regierung (schwedisches Modell der 60er, 70er Jahre) war ein bedeutender Bewegungsunterschied zu einer aggressiv-imperialistischen Bürgerregierung (Hitlermodell). Darum ist ein Eintritt in eine Abwehrregierung der Bourgeoisie auch oft geboten gewesen und eine Verweigerung hätte enormen Vertrauensverlust bei den Massen bedeutet. So kam die Volksfrontregierung in Frankreich zustande und gewissermaßen auch jetzt die breite Regierung unter Prodi, wo ein Ausstieg unweigerlich die dritte Zerrüttungswelle über die italienische, gespaltene Linke rollen und Berlusconi und seinen postfaschistischen Koalitionspartner Fini bringen und zementieren würde.
Bei dieser Art Volksfrontregierung unter Prodi geht es der Rifondazione Comunista um möglichst viel außerparlamentarische Bewegungsfreiheit für sich selbst und gegen die erdrückenden Koalitionspartner, während eine wirklich linke Regierung auf höchste Einheitlichkeit setzen müsste.

Gramscis gelehriger Schüler-Genosse, Palmiro Togliatti, trat so zum Beispiel sogar in die vom faschistischen Großrat Italiens gestiftete „antideutsche“ Koalitionsregierung ein, um die Bewegung des Widerstands gegen die Salò-Republik, namentlich der Partisanen, zu verbreitern, zu vertiefen und zu stärken. (Raum in der Geschichte erobert, wer intellektuell hoch, sinnlich tief und im Bündnis breit wirkt.)Denn einerseits wurde mit der Regierung des Marschall Badoglio(des einstigen Schlächters von Abessinien – welche Kröte Togliatti hier schlucken musste!!!) die Koalition von Königstreuen, Linksliberalen und Kommunisten zu einer einzigartigen antinazistischen Front im Volk und andererseits konnte in den Bergen der Antikommunismus damit praktisch, plastisch abgebaut und sogar Neues geschult werden. Dies steht an der Wiege der einstmals erfolgreichsten Kommunistischen Partei des Westens, der PCI.

Die Linke in der Regierung hat also nicht primär mittels internalisierter Verwaltungserlasse, sondern mit der auf die gesellschaftliche Mobilisierung und nach außen zielenden Widerstandskultur die Basis verbreitert. Sie war also nach der Regierung stärker als davor! Das unterscheidet Regierungsbeteiligung nicht nur von Lenins reiner Spiegel-Funktion, sondern unterscheidet sie auch von den meisten Regierungsbeteiligungen in der jüngeren Geschichte der europäischen und deutschen Linken.

Das ist die objektive „gramscianische“ Gemeinsamkeit des 27. April 1972 in Deutschland (des Kampfs der Massen gegen das Misstrauensvotum von Barzel gegen Brandt) und des April 2002 in Venezuela: eine damals noch teillinke Regierung überschreitet ein kleines national vorgegebenes Limit der Herrschenden (bei Brandt die antikommunistische Adenauer/Hallstein-Doktrin; Chavez drängte damals noch zaghaft die US-Hegemonie zurück durch eine Verfassungsänderung im Konvent für ein Referendum). Aber auf die rechte Gegenattacke hin werden die Massen einbezogen und verschieben nachhaltig das gesamte gesellschaftliche Kräfteverhältnis in zunächst reiner Defensive nach links!)


IV.Mitregieren aus der Opposition heraus

Togliatti trat nach wenigen Monaten wieder aus der Badoglio-Regierung aus. Für die italienische Widerstandsbewegung war dies in kürzester Zeit eine neue Irritation. Togliatti formulierte sein Motto: Ab jetzt „Regieren aus der Opposition“. Das Ergebnis gab ihm aber recht: die nachfolgende Regierung unter Ivanho Bonhoe war weiter antifaschistisch und es konnten erhebliche Errungenschaften für die linke Seite des antifaschistischen Widerstand errungen werden, ohne selbst an der Regierung teilzuhaben. Es gibt immer wieder in der Geschichte der Arbeiterbewegung Situationen, die jene Lügen strafen, die dogmatisch behaupten, nur die Übernahme von Regierungsposten eröffne Gestaltungskompetenz und sei gleichbedeutend mit Verantwortung. Auch Opposition kann aus tiefem Verantwortungsbewusstsein gestalten! Die italienische Linke hat ihr Hoch aus der Opposition erlebt und ihr Tief und die dramatischste Spaltung in der Welt mit der ersten D’Alema-Regierung – der Verschleuderung des größten öffentlichen Besitzes in der EU bis dahin und die Unterstützung des Überfalls auf Belgrad – eingeleitet.

Auch der oppositionelle SDS hat die Adenauerkultur überwinden geholfen. Die Grünen haben in ihrer linksbürgerlichen Zeit als Opposition viel für die Ökologie in allen herrschenden Institutionen und Medien geleistet, in ihrer Regierungszeit – vom Dosenpfand abgesehen – nichts! Die Linke hat in ihrer kurzen Bestehenszeit als Fraktion gesetzlichen Mindestlohn und andere Themen der sozialen Gerechtigkeit wieder realitätsfähig gemacht.

Auch der Rheinische Partizipationskapitalismus ist sicherlich nicht nur dem Fordismus, dem dritten Tarifpartner DDR und einsichtigen Kapitalkreisen zu verdanken, sondern auch der damaligen Stärke der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften.


V.Systemopposition in der Mitregierung

Eine prominente Mitregierung – also über der Gemeindeebene – bietet dennoch durchaus probate Instrumentarien zur Orientierung von nichtreformistischen Brüchen mit der Kapitallogik. Aber nur, wenn sie Sache der gesamten Partei und nicht bloß die der zuständigen Region ist. (In Regierung und Opposition ist aber auch immer von den Erfahrungen anderer Linker in anderen Ländern und zu anderen Zeiten zu lernen. Etwa von der japanischen KP, die sich besonders auch um die Mittelschichten ihres Landes im Sinn eines nicht- und antimonopolistischen Bündnisses kümmert und bemüht.)

Bei allen Regierungsoptionen ist nicht nur die reale institutionelle Beständigkeit sozialistischer Reformvorhaben und Abwehrkämpfe zu bewerten. Sondern (im Abgleich zu Togliatti und anderen Evaluierungen von solchen Koalitionsregierungen in der jüngeren EU-Geschichte, die auf oft genug im Chaos mündeten, wie in Spanien, Frankreich usw.) immer auch in Bezug auf die kulturelle Wirkung auf die Herzen und Köpfe der Massen zu bewerten. Die Frage lautet: Ist mit und nach der Mitregierung die Menge der aktiven Mitstreiterinnen und auch die Wählerschaft stärker oder schwächer (wie in Berlin). Dabei sollte ein Aspekt beachtet werden, den der italienische Kommunistenführer Enrico Berlinguer 1973/74 zu einer völligen Umsteuerung der Politik der PCI veranlasste: die Putschgefahr mit Hilfe eines Geflechts aus Medien und Geheimdiensten, das auch – wie in Chile – militärgestützt sein kann, aber nicht muss. Berlinguer orientierte – mit zunächst ähnlich irritierender Wirkung wie die Togliattischen Wendungen – fortan nicht mehr auf eine knappe gemeinsame Mehrheit mit den halblinken Sozialisten Craxis usw., sondern auf den historischen Kompromiss mit der damals stärksten traditionsbeherrschenden katholischen aber durchaus auch volkstümlich sozialen Kraft, der DC. Aber schon im Ansatz wurde diese Strategie mit der Ermordung Aldo Moros zunächst zerstört, wobei bis heute die Stimmen nicht leise werden, die behaupten, auch hier hätten sowohl die antikommunistische Flanke unter Andreotti als auch westliche Geheimdienste ihre Finger im Spiel gehabt.

Summa summarum: Wer über einen seriösen also nicht rechtsreformistischen Ansatz einer Beteiligung an einer nationalstaatlichen Regierung spricht, die auch nur ein echtes Privileg der Herrschenden vergesellschaften möchte, ohne die Gefahr eines Putschs ins Auge zu fassen, handelt unverantwortlich. Jeder Regierungsbefürworter in der Linken, der etwa leise auf 2009 spekuliert, möge sich fragen und fragen lassen, ob unsere Partei und die gesellschaftliche Linke die Gegenmachtressourcen aufbieten können, auch nur einen (nichtmilitärgestützten) Putschversuch wie den gegen Willy Brandt am 27. April 1972 zurückzuschlagen, bei dem – neben einer unglaublichen Medienkampagne (aber in damals noch demokratischerer Medienlandschaft als heute, mit weniger Einflussmöglichkeiten des BND auf den Journalismus – das Hauptinstrument der konspirative Wegkauf von sechs Abgeordneten war. Jeder, dessen Phantasie versagt, sich in einer auch nur halblinken Bundesregierungskoalition eine entsprechende Zahl von MdBs vorzustellen, die mit und ohne Geld weggekauft werden können, sollte bei solchen Diskussionen ungehört bleiben.

In diesem Sinne braucht die Linke eine seriöse Beurteilung von Regierungsbeteiligungen, die nachhaltig und dauerhaft der Mehrheit der arbeitsorientierten Menschen in Bewegung hilft. Und sie braucht Befürworter eines linken Reformismus und einer demokratischen Revolutionsperspektive, die die Linke nicht durch voluntaristische Regierungsbeteiligung in eine Katastrophe führt.


VI.Niedersachsen konkret (Dies hatte ich nur mündlich vorgetragen).

So wie Oskar, der sie vorzüglich treibt: nicht „niemals Koalition“ sagt, sondern: „Beck könnte morgen Kanzler sein, wenn die Bundeswehr aus dem Ausland abgezogen würde, die Rentenkürzung und Hartz IV beseitigt und durch gesetzlichen Mindestlohn ersetzt wären“, kann alles Abgelehnte auch positiv umformuliert werden. Denn es gibt politisch weniger ausgebildete Wähler – oft vormals Nichtwähler – die mit unserer Wahl eine sehr schnelle Änderung ihrer persönlichen Lage, inclusive Arbeitsplatz, Wohnung und Portemonnaies, sehen, die mit uns und durch uns auch eine andere Regierung wollen. Neben den reflektierenden Wählerinnen, die den hohen Nutzen einer konstruktiven Oppositionskraft, von der sie nicht wie von Grünen und Ex-Jusos verschaukelt werden, zu schätzen gelernt haben, müssen wir auch die etwas „kurzatmigeren“ Wählergruppen beachten. Unsere Meinungsverschiedenheiten – bzw. auch die, die in Hessen jetzt aufeinander geprallt sind, spiegeln also auch reale unterschiedliche Spektren unserer wachsenden Wählerschaft. Und wir wollen und müssen beide Wählergruppen sehen und mitnehmen.

Dabei müssen wir dringendst auch die Botschaft öffentlich vermitteln:

Schwarz-gelb kommt im Landtag und in der Staatskanzlei nur ins Wanken, wenn wir über 5 Prozent kommen. Sonst bleiben die Verhältnisse dort in Beton gegossen! Die taktischen Wählerinnen müssen neu rechnen lernen!

Dabei war Niedersachsen – von den im Westen anstehenden drei Wahlen – seit jeher das komplizierteste Land.

Es gab im Landesvorstand am Sonntag zu meinen Thesen eine großartige offene Diskussion mit dem festen Willen, entgegengesetzte Standpunkte produktiv zusammenzubringen und nicht heimlich gegeneinander„über die Medien-Bande zu spielen“. Im Lichte dieser Debatte im Landesvorstand habe ich mein Referat korrigiert und weiterentwickelt. Und setze hiermit den Beschluss des Landesvorstands vom 2. September um, dieses zunächst interne Referat zur Diskussion in der Partei zu veröffentlichen.


Daneben habe ich mündlich noch folgendes mit Akzeptanz im Landesvorstand vorgeschlagen:
Ich schlage vor, die Auswertung des Wahlergebnisses und das Nachdenken darüber, wie es weitergeht, in einer großen Halle in Niedersachsen als „Ratschlag der Bewegungen“ (Arbeitstitel) (mit Betriebsräten, Vertrauensleuten, Gewerkschaften, attac, Anti-Atom-Bewegung, 1000mal, Eltern-Initiativen, Asten, Schulvertreterinnen, quer; usw. usw.) unmittelbar und kurz nach der Landtagswahl durchzuführen. Und zwar BEVOR die Partei hinter verschlossenen Türen und in ihren Gremien entscheidet. Wir sollten bereits im Wahlkampf überall dazu einladen und dafür werben, dass wir uns wenige Tage nach der Wahl bei diesem organisierten Teil unserer Wähler den Rat abholen über Schwerpunkte, Taktik und Strategie im niedersächsischen Landtag usw. usw.
Ich schlage hearings vor mit interessanten Multiplikatoren Niedersachsens – mit interessanten Künstlern, Gewerkschaftern, Anti-Atomaktivistinnen, interessanten Unternehmerinnen, usw. usw. zu unserem Landtagswahlprogrammentwurf. Diese hearings sollen zwischen dem 9. September und dem 3. November stattfinden.
Außerdem sollte es vor der Landtagswahl zwei öffentliche Fraktionssitzungen geben. Dort soll unsere künftige 10köpfige Fraktion ihre Schwerpunkte, möglicherweise ihre Fraktionsspitze und ihr personelles Angebot für die Fachausschüsse öffentlich machen.
Dr. Diether Dehm