Es gilt, die sowjetische Psychologie wieder zu entdecken. Weil diese Schule die äußeren Verhältnisse, in denen der Menschen lebt, ins Innerseelische reflektiert.
Im Groben und Ganzen lässt sich diesowjetische Psychologie von der bürgerlichen – auch deren fortschrittlichster Schule, der Sigmund Freuds– dadurch unterscheiden, dass sie die Arbeit und deren Verhältnisse kategorial in die Persönlichkeitsentwicklung einbezieht. Die psychischen Regungen des Menschen sind dann weder nur frühkindlich, noch schlicht quantitative Weiterentwicklungen der tierischen Triebe. Wie sich Biologie – so auch „Drive-Gefühle“ (Agnes Heller )oder „animal spirits“ (Karl Marx) –durch das Gesellschaftliche hindurch in einer Biographie anlegt, kann vorstellbar werden am Druck des Wassers durch das Kaffeemehl in einer Espressomaschine: Beide sind in der Tasse weder als Einzelne noch als Druck auffindbar.
Antonio Gramsci stellte klar: „Die Natur des Menschen ist seine Geschichte“. Er widersprach jener Vorstellung, diese Biologie, also auch menschliche Sexualität und Triebe, seien nur eine schrittweise Weiterentwicklungdes Tieres. Gramsci meinte in hegelscher Tradition, dass sie gleichsam tief durch die Geschichte der Klassen in die Persönlichkeit tauchen und darin wieder hoch- und aufgehoben würde: nicht mehr als solche direkt auffindbar, weil in einer höheren und neuen Qualität.
Die Rolle der Verhältnisse
Weil zum Beispiel der Mensch nicht hungern will, „kämpft er nicht nur ums nackte Überleben, sondern auch Es gilt, die sowjetische Psychologie wieder zu entdecken. Weil diese Schule die äußeren Verhältnisse, in denen der Menschen lebt, ins Innerseelische reflektiert. gegen den Kampf ums nackte Dasein“(Klaus Holzkamp): Er bildet Vorräte. Um deren Anteile dann Menschen sich als Klassen streiten. Mit den Vorräten wird geprahlt, als sei die Menschheit frei von Hunger: mit Festdinners und mit TV-Koch-Shows. Und dass er niewieder dürsten will, demonstriert derMensch stolz an Trinkgelagen undWeinverkostungen. Oder: dass seinSexual-Trieb gegen die Fortpflanzungeinsetzbar wird, zeigen Verhütungsmittel und pornographischer Kommerz sowie (Traum-)Vorstellungen.
Solcherlei Essen, Trinken, Schlaf und Sex als „tierisch“ zu bezeichnen, wäre also ahistorisch. Auch die Neurosen des Menschen sind nicht ein für alle Mal und unheilbar in der Kindheitangelegt, sondern müssen – um fortzubestehen – korrespondieren („angetriggert“ werden): vor allem mit „Entfremdung“, also der bislang permanenten Räuberei an seiner Arbeitskraft.
Auch des Menschen Lernen unterscheidet sich radikal vom tierischen, wobei bewusstes Einprägen und Erkennen siamesische Zwillinge werden, besonders, wenn sie arbeitend erfolgen. Beide sind auf Vergangenheit angewiesen, wenn sie in die Zukunft wollen. Phylo- wie ontogenetisch entscheidet die Dialektik aus Bildern und Verallgemeinerungs- sowie Gedächtnisfähigkeit die Schlacht um Mehrnisfähigkeit die Schlacht um Mehrwissen. Dabei erkennt der Mensch vorwiegend in seiner eigenen Tätigkeit oder an der Arbeit anderer – also Begriffe bildend (abstrakt „nach obensteigend“) und Metaphern bildend (konkretisierend „in die sinnliche Tiefe tauchend“).
Der Anteil der Arbeit
Friedrich Engels rückt in seiner Schrift vom „Anteil der Arbeit an der Menschwerdung“ die Hand (Handlung) an den Anfang. Deren Steuerungsfunktionen gehen zur Verstandsentfaltung und sogar ins menschliche Erbgut über. Arbeitsmittel werden bei geübtem Gebrauch in Ausübung der Sinne „Organ der Arbeit ... auch ihr Produkt.
“Der sowjetische Psychologe AlexejN. Leontjew nannte die Entwicklung der Psyche einen „von Anfang gesellschaftlichen Prozeß“ – im Unterschied zu allen tierischen Aktivitäten. Das Ich wird somit gleichsam entbiologisiert und aus einer absoluten Vereinzelung geholt. Es gibt schlussendlich keine einzige entfaltete psychische Regung, die nicht aus Sozialität stammt: aus der Arbeit der Menschheit mit der nicht-menschlichen Welt, aus der gesellschaftlichen Arbeit des Einzelmenschen an den von seinen Mitmenschen und Vorfahren gestalteten, ihm überlassenen Umständen.
Autonom oder sozialisiert
Dabei sind besonders die widersprüchlichen Zusammenhänge zwischen Gehalt und Gestalt näher zu betrachten. Nehmen wir die Auseinandersetzung des sowjetischen Sprachforscher LewS. Wygotski mit dem Schweizer Kinderpsychologen Jean Piaget. Letzterer sah die Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit vom Autonomen hin zum Sozialen. Aber er sah beim Säugling nur die Laute, also die Gestalt, mit denen dieser etwa Milch einfordert, als autonom, aber eben noch nicht „sozial“. Hingegen nach Wygotski ist der Gehalt des Säuglingsgeblabbers, also „die ursprüngliche Sprache des Kindes eine rein soziale; es wäre falsch, sie ‚sozialisiert‘ zu nennen, da ja mit diesem Wort die Vorstellungvon etwas ursprünglich Nicht-sozialem verbunden ist, das erst im Verlaufe seiner Entwicklung sozial sein wird“.
Wygotski unterschied also zwischender Gestalt egozentrischer Töne und deren allgemeinem Gehalt. Je mehr ein Mensch also sein Denken und Sprechen aus der Gesellschaft holt (deren kultureller Reichtum außerhalb abgelegt wird), desto individueller und weniger an die Gesellschaft gefesselt bleibt er. Je mehr Gesellschafter gebraucht, desto weniger braucht er sie.
Gleichheit statt Gleichmacherei
Wir ahnen eine Intention dieser Auseinandersetzung besonders dann, wenn wir uns mit den „Neoliberalen“ auseinandersetzen, die das Ich vergötzen, um ihm besser das Fell über die Ohren ziehen zu können. Sie reden jedem Unterdrückten ein, er sei bereits autonom und „seines Glückes Schmied“, einfach weil geboren, wahlberechtigt und etwas vor sich hinredend oder postend. Sie appellieren an Egomanie, ohne die gesellschaftlichen Potenziale voll zu erschließen, die ein starkes Ich als Nährboden braucht. Sie lassen, mit Brecht, der werktätigen Mehrheit die freie Wahl der Klaviertasten, ohne jegliche Unterrichtung. Sie behandeln also Ungleiches gleich und verschärfen damit die Ungleichheit. Während Sozialismus Ungleiches ungleich behandelt, um Gleichheit zu erzielen.
Marx, Engels, Lenin und Bertolt Brecht loben darum das Lernen, um zum An-und-für-sich-Denken zu gelangen. Von Sozialismus sprechen wir also nicht als Gleichmacherei, sondern: auf der Sozialität zu einer starken Individualität aufzusteigen. Wo Eliten also Mehrheiten Bildungspotenziale vorenthalten, benachteiligt dies à la longue die Individualität wie die Gattung, sich größere Potenziale zu verschaffen. Die Menschheit löst tendenziell erst all ihre Probleme, wenn alles Wissen von allen ausgebeutet wird.
Wygotski schrieb: „Die Entwicklung des kindlichen Denkens verläuft [...]vom Sozialen zum Individuellen. Humboldt empfahl schon früh: ‚Man muss die Sprache [...] nicht wie ein totes Erzeugtes, sondern weit mehr wie eine Erzeugung ansehen, mehr von demjenigen abstrahieren, was sie als Bezeichnung der Gegenstände […]wirkt, und dagegen sorgfältiger auf ihren mit der inneren Geistestätigkeit eng verwebten Ursprung [...] zurückgehen.‘“
Dazu zitiert er Lenin: „Auch in der einfachsten Verallgemeinerung [...](‚der Tisch‘ überhaupt) steckt ein gewisses Stückchen Phantasie“ und fährt fort: „Der Gedanke, dass Phantasie und Denken in ihrer Entwicklung Gegensätze sind, deren Einheit bereits in der ersten Verallgemeinerung, im allerersten beim Menschen gebildeten Begriff enthalten ist, kann nicht klarer zum Ausdruck gebracht werden. Dieser Hinweis auf die Einheit der Gegensätze und ihren Widerspruch, wonach jede Verallgemeinerung einerseits heißt, dem Leben zu entschwinden, und andererseits eben dieses Leben tiefgründiger und richtiger widerzuspiegeln, und dass in jedem allgemeinen Begriff etwas Phantasie steckt, eröffnet den richtigen Weg zur Untersuchung des autistischen und des realistischen Denkens.“
Ein wichtiger Unterschied
Offenbar geht unser Denken einen Mix ein zwischen Gestalt (Erscheinung, Metapher) und Gehalt (theoretischer Ausmessung). Diese Vordergründigkeit wird von sogenannten Metapherntheoretikern missbraucht, um ahistorisch am Gebrauch von Metaphern falsches Verhalten denunzieren zu dürfen. Mechanische Wortklauberei liefert Überheblichkeit, aber keinen sozialen, kritischen Theorieansatz!
Der Unsinn also, der Krieg käme „aus unseren kriegerischen Metaphern“ ,findet seine Nahrung dort, wo zwischen Metapher und Begriff nicht unterschieden wird. Wir sollten nicht zuerst unangenehme Worte abschaffen, sondern die unangenehmen Zustände, aus denen diese notwendig aufsteigen. Auch weil miese Zustände Worte mies aufladen. Also suchen wir besser das im Wort gespiegelte Bewusstsein „wie die Sonne in einem Wassertropfen …das sinnvolle Wort ist der Mikrokosmos des Bewusstseins“ (wie Wygotski Shakespeare zitiert).
Das Wort „Sexualität“ findet zwar weder in der materialistschen Psychologie, noch in den Standardwerken der Metapherntheorie wirklichen Anklang. Aber deren AnhängerInnen neigen auch bei Pornographie zur Verbannung, als sei Pornographie von vorneherein schmutzig und nicht aus schmutzigen Verhältnissen erstanden. Diese sollten wir zu überwinden trachten, anstatt mit dem Verbot von Worten, Vorstellungen und Handlungen – ähnlich der Prohibition – nur die illegalisierten Preise hochzutreiben.
Mit pornographischen Vorstellungen ist es wie mit anderen unwillkürlichen Metaphern (die gemeinhin von der rechten Hirnhemisphäre aus beim Erkenntnisprozess mit der logisch rechnerischen Begriffsbildung in der linken korrespondieren): Sie müssen mit Besserem erzogen werden, anstatt durch Einschüchterung. (Weshalb Brecht entklemmend einen Teil seiner Liebesgedichte „pornographisch“ nannte). Begriff und Metapher holen wir uns bildend dazu aus jener „Cloud“, die wir Kultur nennen (=Colere/Pflege von Wissenschaft und Kunst)!
Der Autor hat in Medizin, Pädagogik und Psychologie zum Psychosomatiker promoviert sowie Aufsätze zu Epidemien und Immunsystem verfasst. Er ist Autor zahlreicher kommerzieller Nr-1-Hits, sowie von Liebes-, Antifa- und Friedensliedern. 17 Jahre lang war er für SPD und Die Linke im Bundestag. Er war Manager von Katarina Witt, BAP, Klaus Lage und anderen, sowie Moderator und Autor diverser TV-Shows und Satire-Sendungen, von Romanen und Musicals
Diether Dehm in "Die ViERte Gewalt" Nr. 4/22